Linhs soziale Ader

von Lukas Blatter 10. Januar 2014

Im zweiten Portrait begleitet Journal B Linh Ramirez an die Jugendsession. Der 18 Jährigen liegt besonders das Thema Armut am Herzen. In der Arbeitgruppe Chancengleichheit machte sie sich für mehr Gerechtigkeit stark.

Es war ihr erstes Mal an der Jugendsession, wie sie mir aufgeweckt erzählte. Für Linh Ramirez, die sich bislang nicht gross politisch engagiert hatte, sollte die Jugendsession den Einstieg in die Politik erleichtern und für eine erste Orientierung sorgen. Eigentlich hätte sie bereits letztes Jahr an die Jugendsession gehen wollen, doch die Organisation mit der Schule wäre schwierig geworden.

Ihr Vater, der aus Kolumbien nach Europa gereist ist, hat Ramirez dazu motiviert, an die Jugendsession zu gehen. In Kolumbien sei er in bitterer Armut aufgewachsen, erzählt Ramirez. Das habe sie sensibilisiert für Themen wie Armut und Ungleichheit: «Es kann nicht sein, dass es Armut in einem so reichen Land wie der Schweiz gibt, wo diese eigentlich problemlos behoben werden könnte.» Deswegen wolle sie sich in der Arbeitsgruppe Vermögensverteilung für eine gerechtere Verteilung einsetzen.

Das Thema der Arbeitsgruppe ist Linh Ramirez nicht unbekannt. Sie verfasse ihre Interdisziplinäre Projektarbeit darüber. «Vermögensverteilung findet in den öffentlichen Diskussionen leider praktisch keinen Platz», sagt sie. Dabei sei dies einer der zentralen Aspekte, die in einer so fortschrittlichen Gesellschaft, wie jener der Schweiz, besprochen werden müssen: «Jeder soll sich der Wichtigkeit des Thema bewusst werden.»

Diskrimination entgegenwirken

Über das Internet hat sich Ramirez über die Jugendsession informiert. Sie war sofort begeistert. Mit der Politik sei sie in der Schule konfrontiert worden und ihr Vater bestätigte sie in ihrem Engagement. Und da Ramirez gerne ein Wagnis eingeht, hat sie sich für die diesjährige Jugendsession angemeldet. «Lieber probiere ich etwas aus, als auf jemand anderes zu hören».

Von ihrem Vater weiss sie, wie es ist, als Kind in armen Verhältnissen aufzuwachsen. Deswegen ist es ihr wichtig, dass dies möglichst keinem Kind widerfährt. «Jedes Kind soll die gleichen Chancen haben, Unterschiede gilt es zu vermeiden», meint Ramirez. Dies sei vor allem in der Bildung zu erreichen.

Auch den Migratinnen und Migranten soll geholfen werden: «Wer diesen eine Chance anbietet, wird später auch keine Probleme mit ihnen haben.» Ihrem Vater sei die Chance geboten worden, nun ist er gut integriert. Dies sei nicht zuletzt Ramirez Mutter zu verdanken, eine Schweizerin, die vorbehaltlos auf den Immigranten zugegangen sei. «Jeder, egal woher, hat es verdient, akzeptiert und aufgenommen zu werden.» Davon würden schlussendlich alle profitieren, ist sie sich sicher.

Begegnung mit Rassismus

Aber auch in anderen Bereichen ist Ramirez das Thema Gleichstellung wichtig. Noch immer werde man heute oft aufgrund der eigenen Denkweise, des Geschlechts oder der Herkunft diskriminiert. Besonders ist ihr dies auf ihrer Arbeit aufgefallen. Dort begegnet sie oft anderen Menschen, die ein intolerantes Verhalten an den Tag legen, sobald sie ihren Namen erfahren. «Ich habe nie gedacht, dass der Rassismus in der Schweiz so weit verbreitet ist», sagt Ramirez.

Sie findet es bedenklich, wie ausgeprägt der Fremdenhass in vielerlei Hinsicht heute ist. Dieser dürfe nicht toleriert werden, ebensowenig wie die Ablehnung von Menschen, die sich für eine sexuelle Orientierung entschieden haben, die nicht gewissen traditionalistischen Denkmustern entspricht.

Als eines der letzten Länder führte die Schweiz 1971 das Frauenstimmrecht ein. «Frauen werden in unserer Gesellschaft jedoch nach wie vor diskriminiert», findet Ramirez. Sie verstehe nicht, weshalb Frauen für dieselbe Arbeit noch immer deutlich weniger verdienen als Männer. Ebenso erhielten Frauen zu selten die Möglichkeit, Karriere zu machen. «In der Wirtschaft ist einiges schief gelaufen», schliesst Ramirez ihr Votum für die gesellschaftliche Gleichstellung.

«Ich habe eine soziale Ader»

Der Frage der gerechten Umverteilung hat sich die Arbeitsgruppe donnerstags angenommen. Von der Abschaffung der Gewerkschaften zugunsten von Betriebsräten bis zur Übertragung der Geschäftsleitung in die Hände aller Arbeitnehmenden wurde alles heftig diskutiert. Wie verhindert man die Armutsfalle und wozu dient der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn eine grosse Diskrepanz zwischen Arm und Reich besteht? Fragen, denen die Teilnehmenden um Ramirez während ihrer gemeinsamen Arbeit begegneten.

Bei der Stichwortsammlung durfte ein Begriff nicht fehlen: Armut. Linh Ramirez war es, die diesen eingebracht hatte und dafür sorgte, dass er nicht zu sehr in den Hintergrund geriet. «Ich habe eine soziale Ader», begründet Ramirez ihr Engagement gegen Armut. Wegsehen komme für sie nicht in Frage.

Selbstbewusst und mit dem Anspruch, «Politik für alle» zu machen, hatte Linh Ramirez im Sinn, sich an der Jugendsession auch für jene einzusetzen, die unter der Ungleichheit leiden. Nach der Ausarbeitung der Petition begann am Samstag die Vorbereitung auf die Diskussionen im Nationalratssaal: Argumente notieren, Reden verfassen und sich auf die Reaktionen der anderen Teilnehmenden der Jugendsession gefasst machen.

Kein Erfolg am Sonntag

Ramirez unterstützte den Teil der Gruppe, der sich mit dem Plädoyer für die Petition beschäftigte. Sonderlich viel Zeit habe dies nicht in Anspruch genommen, meint sie. Der andere Teil habe die Demonstration gegen das kantonale Sparpaket des Kantons Bern besucht, was miteinander abgesprochen war. Alles in allem war die Gruppe jedoch zufrieden mit dem Ergebnis, welches sie dem Plenum vorzustellen hatten.

Einen herben Rückschlag erlitt die Arbeitsgruppe am Sonntag, als deren Petition zur Schaffung von Betriebsräten in Unternehmen in der Schweiz von der Mehrheit der Jugendsessionsteilnehmenden verworfen wurde. Selbst eine neue Formulierung, die in einem Änderungsantrag gefordert wurde, konnte der Petition nicht zum Erfolg verhelfen.

Dieser Entscheid kann Ramirez nur schwer nachvollziehen: «Unsere Arbeitsgruppe war gut durchmischt, wir führten lange Diskussionen und polarisierten mit unserer Petition kaum.» Daher gehe sie davon aus, dass viele das Anliegen falsch verstanden haben. Eine konkrete Erklärung hat sie indes keine parat.

An der Politik dranbleiben

Mit 56 Prozent lehnte zwar nur eine knappe Mehrheit das Vorhaben ab. Trotzdem ist dies kein Grund für Ramirez, den Kopf hängen zu lassen. Obwohl sie erkannt habe, dass sie gerne andere Personen für ihre Ideen gewinnen wolle, könne sie auch trotz dieses Misserfolgs zufrieden nach Hause gehen.

Für Linh Ramirez ist die Jugendsession eine lehrreiche Erfahrung gewesen. Sie hat andere Meinungen und die diversen Facetten des politischen Engagements kennengelernt. Nun wisse sie, dass man Kompromisse eingehen müsse, um zu einem Ziel zu gelangen. Weiterverfolgen werde sie ihre politische Arbeit nun beim Jungfreisinn, dem sie nach einem Besuch an dessen Stand beigetreten ist.