Wer gibt Gas auf dem Gaswerkareal?

von Gabriela Neuhaus 10. September 2013

Die Stadt Bern drückt sich seit Jahren um die Entwicklung ihrer wertvollsten Brache am Aareufer. Jetzt hat Losinger Marazzi das Heft in die Hand genommen.

Gummigeschosse knallen durch die Luft, Farbbeutel fliegen und Pflastersteine – ätzende Tränengasschwaden liegen über der grünen Oase am Aareufer. Die Erschütterung im sonst so beschaulichen Bern ist heftig, als am 17. November 1987 ein Grossaufgebot der Polizei das «Freie Land Zaffaraya» gewaltsam räumt.

Rund zwanzig Hütten hatten sich Jugendliche aus der Berner Bewegtenszene in den Monaten davor selber gezimmert. Zuerst liess man sie gewähren, da sie auf dem alten Gaswerkareal am Aareufer niemanden störten. Der Entscheid zur Räumung war in der Stadtregierung umstritten. Ein Vertreter der harten Linie, die sich schliesslich durchsetzte, war der damalige Stadtpräsident Werner Bircher (FDP). Man habe diese Siedlung auflösen müssen, rechtfertigte er den Räumungsbefehl, weil der Nutzungszonenplan auf diesem Areal keine Wohnbauten zulasse.

Handfeste wirtschaftliche Interessen statt Utopien

25 Jahre nach Zaffaraya sorgt das Thema Wohnen auf dem ehemaligen Gaswerkareal in Bern erneut für Unruhe. Diesmal stehen nicht Utopien von Freiheit und Selbstverwirklichung zur Debatte, sondern handfeste wirtschaftliche Interessen: Das Bauunternehmen Losinger Marazzi will auf der zentrumsnahen Industriebrache ein neues Stadtquartier bauen. «Jeder Entwickler sucht nach Brachen, speziell in seiner Stadt. In unserer Firma war das Gaswerkareal seit Jahren ein Thema, um darauf ein nachhaltiges Projekt mit Mehrwert zu realisieren», sagt Alec von Graffenried, regionaler Leiter Immobilienentwicklung beim Traditionsunternehmen mit Berner Vergangenheit, das aber heute dem französischen Grosskonzern Bouygues gehört.

Dampfzentrale und Gaskessel sind aus dem Berner Kulturleben nicht wegzudenken.

Gabriela Neuhaus

Das Areal des alten Gaswerks, das wegen seiner Lage und Geschichte für Bern eine ganz besondere Bedeutung hat, umfasst 55’000 Quadratmeter und liegt auf dem südlichen Teil der Marzili-Schwemmebene. Seit dem Ende der Gasproduktion 1967 wurden die mächtigen Industriegebäude, die teilweise nahe am Aareufer standen, sukzessive abgebrochen. Nach und nach hat sich die Natur einen Teil des Geländes zurück erobert: Seltene Pflanzen spriessen im öffentlich zugänglichen Auen-Biotop, aber auch auf den mit Stacheldraht abgesperrten Flächen, die heute als Lagerplatz extensiv genutzt werden.

Doch nicht nur die Natur hat sich in den neu gewonnenen Freiräumen entfaltet: Die Theater- und Konzerthallen von Dampfzentrale und Gaskessel sind aus dem Berner Kulturleben nicht mehr wegzudenken. Und in den Gebäuden der alten Ryff-Fabrik, die der Stadt gehört und deren Campus ans Gaswerkareal grenzt, haben sich im Lauf der Jahre immer mehr Kreativbetriebe und Kunstschaffende eingemietet. «Ein Glücksfall», sagt Alec von Graffenried. Solch ein Kreativcluster sei schwer planbar – aber genau das, was ein lebendiges Quartier brauche.

Losinger Marazzi legt los

Losinger Marazzi nahm 2010 das Heft in die Hand und gab beim Berner Architekturbüro «Atelier 5» eine Studie in Auftrag, die das Potenzial einer künftigen Siedlungsentwicklung auf der Industriebrache abschätzen sollte. Dabei wurde der Planungsperimeter um fast das Doppelte auf rund 10 Hektar ausgeweitet – über das Gaswerkareal hinaus bis an den Rand des angrenzenden Marzili-Schwimmbades.

Die Parzellen unter der mächtigen Monbijoubrücke und zum Brückenkopf hin würden sich für den Ausbau von kultureller und gewerblicher Nutzung eignen, so die Idee, während auf den Brachen des einstigen Gaswerks vor allem gewohnt werden soll: «Das Areal bietet Raum für rund 200 Wohnungen – möglicherweise etwas mehr», sagt Alec von Graffenried. Ziel sei es, ein zukunftsweisendes Quartier mit einem differenzierten Wohnangebot in Zentrumsnähe zu schaffen.

«Die Umnutzung des Gaswerkareals hatte für die Stadt in den letzten Jahren keine Priorität.»

EWB-Sprecher Raphael Wyss

Der Grundeigentümer des Gaswerkareals, der privatrechtlich organisierte städtische Dienstleister Energie Wasser Bern (EWB), zeigte sich von diesen Plänen angetan: Er hatte bereits 2009 beim Kanton eine Fristerstreckung für die rund 18 Millionen Franken teure Sanierung einer stark mit Teerschlamm verseuchten Parzelle erwirkt. Aus ökonomischen Gründen wollte man den Aushub von rund 34’000 Kubikmetern Erdreich mit einem Bauprojekt verbinden.

Die dafür notwendige Planung und Umzonung wurde allerdings von der Stadt immer wieder hinausgeschoben. «Die Umnutzung des Gaswerkareals als Entwicklungsschwerpunkt hatte für die Stadt in den letzten Jahren keine Priorität», begründet EWB-Sprecher Raphael Wyss das Zusammengehen mit dem privaten Grundstückentwickler. Weil der bis 2015 gewährte Sanierungsaufschub ungenutzt abzulaufen drohte, habe man, in Absprache mit der Stadt, am 8. Dezember 2011 mit Losinger Marazzi eine Projektentwicklungsvereinbarung abgeschlossen.

Pikante Äusserungen des Stadtplaners

Die Vereinbarung besagt, dass Losinger Marazzi das gesamte Areal auf eigene Kosten entwickelt und im Gegenzug die Bauten als Generalunternehmer realisiert – vorausgesetzt, die Planung und notwendige Umzonung werden in einer Volksabstimmung genehmigt. Für die Architektur sollen in einer späteren Phase Wettbewerbe durchgeführt werden. Zudem verzichtet Losinger Marazzi darauf, sich als Investor oder als Auftragnehmer für Ingenieursleistungen zu bewerben.

«Die Stadtplanung verfügt nur über beschränkte personelle Ressourcen.»

Stadtplaner Mark Werren

Bei der Stadt begegnete man der Partnerschaft zwischen EWB und Losinger Marazzi mit Wohlwollen. Nicht zuletzt, weil sich die Berner Politik seit Jahren um einen Entscheid betreffend Gaswerkareal drückt. Das Areal gilt als politisch heikel – und erscheint deshalb nicht auf der Prioritätenliste der Stadtplanung.

Pikant ist die Rechtfertigung von Stadtplaner Mark Werren für die Tatsache, dass sein Amt die Entwicklung Losinger Marazzi überlässt: «Das Stadtplanungsamt verfügt zurzeit nur über beschränkte eigene personelle Ressourcen.» Er räumt ein, dass «der Prozess der Entscheidfindung grundsätzlich hoheitlich geführt werden sollte», legt aber gleichzeitig Wert auf die Feststellung, dass die Planungsarbeit inhaltlich die gleiche bleibe. Und dass man solches Outsourcing an Private auch in anderen Städten kenne

Kritik an der Stadt

Ganz anders beurteilt Werrens Vorgänger Christian Wiesmann die Situation: «Das Gaswerkareal ist für die physische Entwicklung von Bern von so zentraler Bedeutung, dass die Stadt hier ganz klar den Lead übernehmen und Mittel für eine eigene Planung zur Verfügung stellen muss.» Dass der Eigentümer die Sanierungskosten seines Grundstücks mit einem Entwicklungsprojekt wieder einspielen wolle, sei nachvollziehbar, Voraussetzung sei aber ein vorgängiger Planungsprozess durch die öffentliche Hand.

«Die Politik hat es jahrelang verpasst, in Plaung und Entwicklung zu investieren.»

Heinz Freiburghaus, Architekt

«Hier müsste die Stadt eingreifen und die beiden Vorhaben entkoppeln», fordert Thomas Hostettler von der Gesellschaft für Stadt und Landschaftsplanung GSL. Und Heinz Freiburghaus, Architekt in Bern, ergänzt: «Ein Ideenwettbewerb wäre angezeigt. Stattdessen wird jetzt plötzlich Druck aufgebaut, nachdem es die Politik jahrelang verpasst hat, in Planung und Entwicklung dieses empfindlichen Gebiets zu investieren.» Ein Druck, der nicht nur unzulässig, sondern auch unnötig sei, da Energie Wasser Bern explizit für die Sanierung des Gaswerkareals Rückstellungen in der Höhe von 20 Millionen Franken getätigt habe.

Heinz Freiburghaus ist Mitglied einer Arbeitsgruppe des Architekturforums Bern, die zusammen mit der GSL im April eine Veranstaltung organisiert hat, um die aktuelle Entwicklung auf dem Gaswerkareal öffentlich zur Diskussion zu stellen. Beim Architekturforum steht man einer künftigen Wohnnutzung grundsätzlich nicht negativ gegenüber. Allerdings wird kritisiert, dass das bisherige Vorgehen völlig intransparent sei und es die Stadt bisher versäumt habe, klare Rahmenbedingungen zu setzen.

Was ist möglich? Und wie viel?

Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang wird sein, wie viel Baufläche für privates Wohnen ausgeschieden wird und wie viel öffentlich nutzbare Freifläche erhalten bleibt. Das Areal ist Teil des Aareraums, für den besondere Planungsvorschriften gelten. Diese verlangen, dass sich zusätzliche bauliche Nutzungen auf ein Minimum beschränken und die noch unbebauten Schwemmebenen vor weiteren Bauprojekten zu bewahren seien.

«Es braucht eine gewisse Grösse, damit Wohnen hier attraktiv ist.»

Alec von Graffenried, Losinger Marazzi

Die Frage, ob das einstmals dicht bebaute Gaswerkareal unter diese Schutzbestimmung fällt oder nicht, wird unterschiedlich beurteilt. Während Jahren gab es jedoch einen breiten Konsens in der Stadt Bern, dass das Areal einer naturnahen Nutzung vorzubehalten sei. Sogar in der 2008 von der Stadt verabschiedeten «Strategie Bauliche Stadtentwicklung Wohnen», die eine Verdichtung in zentrumsnahen Lagen anstrebt, ist praktisch das gesamte heute brach liegende Gelände des Gaswerkareals noch als «unverzichtbare Grünfläche» ausgewiesen. Eine Option für Siedlungsentwicklung gab es nur auf einem kleinen Perimeter im Westen des Areals, entlang der Sandrainstrasse. «Diese Beschränkung ist heute überholt», sagt Alec von Graffenried. Es brauche eine gewisse Grösse, damit Wohnen hier attraktiv sei und die bestehenden Strukturen aufgewertet würden.

Kaum Spielraum für Einzonungen

Bereits die Studie des Ateliers 5 machte deutlich, dass der Spielraum für die Einzonung von Baufeldern relativ begrenzt ist: Der öffentliche Fussweg entlang der Aare, der Veloweg auf der ehemaligen Bahntrasse der Gaswerkbahn, das bestehende Biotop und die Waldflächen sowie die landschaftlich wertvolle Hangkante im Süden des Areals scheiden als Bauflächen von vornherein aus. Dazu kommen erschwerende Rahmenbedingungen wie die mangelhafte Verkehrsanbindung an die obere Ebene der Stadt sowie die intensive Freizeitnutzung des Areals.

«Wohnen am Wasser mit Blick ins Grüne ist hier hoch attraktiv.»

Florian Lünstedt, Atelier 5

Trotzdem sind die Autoren der Studie überzeugt, dass die von Marazzi Losinger angestrebte Entwicklung in die richtige Richtung weise. «Wohnen am Wasser mit Blick ins Grüne ist hier hoch attraktiv», sagt Koautor Florian Lünstedt. Die Planer vom Atelier 5 definierten auf dem eigentlichen Gaswerkareal drei in eine Parklandschaft integrierte Baufelder. Dabei erstaunt kaum, dass die von Losinger Marazzi initiierte Studie zum Schluss kommt: «Erst das Nebeneinander von dicht bebauten Räumen und Freiräumen ergibt an diesem Ort ein räumlich interessantes Gebiet.»

Um den Planungsprozess auf eine breitere Basis zu stellen, wurde im Rahmen eines dreistufigen Workshops ausgelotet, wie eine mehrheitsfähige Planung für das künftige Wohn- und Gewerbequartier aussehen müsste. Eingeladen waren Vertreter der Stadt, der Quartierleiste sowie Fachexperten. Als fixe Grösse musste bei allen Diskussionen und Vorschlägen die vom Entwickler Losinger Marazzi angestrebte Bruttogeschossfläche von 45’000 bis 50’000 Quadratmetern berücksichtigt werden. Darin enthalten ist auch eine 50-Meter-Schwimmhalle, die der Gemeinderat auf dem Gaswerkareal realisieren will.

Freiräume bewahren

Bepackt man das vielseitig zu nutzende Gelände mit so vielen Anforderungen, hat dies unausweichlich Folgen für die Stadtentwicklung: Mehr Wohnen und Betrieb auf der Schwemmebene bedeuten auch mehr Privatautos, zumal es kaum möglich sein wird, den öffentlichen Verkehr auf der unteren Stadtebene auszubauen. Um Lärmkonflikten vorzubeugen, müsste das Jugendzentrum Gaskessel verlegt werden. Vor allem aber würde durch die vorgesehene Nutzungsoptimierung im gesamten Planungsperimeter jegliche Möglichkeit für eine künftige alternative Entwicklung preisgegeben.

«Man muss sich gut überlegen, ob und wie viel man von diesem Gelände nun einer privaten Nutzung zuschlagen will.»

Stadtplaner Mark Werren

Letzteres hat nun den Berner Stadtplaner Mark Werren auf den Plan gerufen: Angesichts der Lösungsansätze, die sich im letzten der drei Workshops herauskristallisierten, warnt er inzwischen vor einer radikalen Umzonung des Areals zwischen Aarehang und Flusslauf: «Verdichtung braucht Freiräume, die weder Sport- noch Badeanlagen sind, sondern allgemein zugängliche öffentliche Grün- und Erholungsräume mit entsprechenden Durchwegungen und einer guten Vernetzung des Gesamtgebietes. Das gibt es in der Stadt Bern immer weniger – deshalb muss man sich sehr gut überlegen, ob und wie viel man von diesem Gelände nun einer privaten Nutzung zuschlagen will.»

Noch ist Zeit für solche Überlegungen: Aktuell liegt der Ball bei der Stadtregierung, die die Rahmenbedingungen für die anstehende Testplanung vorgeben muss. Damit sollen die Weichen für die künftige städtebauliche Gestaltung des Gaswerkareals gestellt werden.

Das letzte Wort allerdings werden die Bernerinnen und Berner haben: Für die Umzonung braucht es eine Volksabstimmung – bis dahin verbietet der Nutzungszonenplan das Wohnen auf dem alten Gaswerkareal.

Erstpublikation im Hochparterre, Zeitschrift für Architektur, Planung und Design Nr. 9/13