Brachland der Seele

von Thomas Göttin 29. Juni 2021

Ein privater Park an der Weissensteinstrasse öffnete für einen Tag seine Tore und zeigte eine Bilderausstellung, welche unseren Autor zum Nachdenken über Seele und Sehnsucht anregte.

Am 12. Juni stellte der Berner Maler Raoul Ris neue Bilder an einem besonderen Ort unter freiem Himmel aus: Im beinahe unbekannten Park an der Weissensteinstrasse. Beim Eingang steht ein alter Grenzstein zwischen Bern und Köniz, der Weissenstein, der dem Quartier den Namen gibt. Das Landgut zum Park diente früher dem Heuhandel mit einem Heulager für Pferde, eine Lindenallee erstreckte sich bis zur Schwarzenburgstrasse. Dieser private Park, in der Regel verborgen, stand für die Ausstellung, die mehrmals verschoben worden war und einen einzigen Tag dauerte, allen offen.

Die Bilder standen auf eigens geschreinerten Holzgestellen im Park. Der Titel der Ausstellung lautete «Le terrain vague de l’âme». Unser Autor Thomas Göttin führte in den Abend ein, im Dialog mit der Saxophonistin Araxi Karnusian. Die Überlegungen der Einführung überdauern die Ausstellung. Journal B gibt sie in gekürzter Fassung wieder.

Überlegungen aus Anlass einer Ausstellung

«Le Terrain vague de l’âme» – das Motto besteht aus zwei Sprachbildern: terrain vague, das Brachland, verbunden mit der vague de l’âme, da drin steckt die Welle und die Seele, der Blues, für mich die Sehnsucht. Die Verbindung öffnet eine ganze Welt. Brachland, erfüllt mit Sehnsucht.

Brachland

Mit Sehnsucht erfülltes Brachland. Wie die Schützenmatte, die Raoul Ris im Journal B so beschrieben hat: «Die Schützenmatte ist Ankunft- oder Abreiseort in andere Länder für Cars und Autos, ist Chilbi und Schaustellerei mit Bahnen, Lichtern und Düften in die Nacht, launischer Treffpunkt, wetteroffenes Spielfeld, ist energiegeladen und Oase in einer fast zu Ende gedachten Stadt.»

Und weiter: «Alle Räume werden zugedeckt und ersticken in unserem Bestreben, sie besser und schöner zu machen als sie sind. Besser und schöner heisst effizienter für Wirtschaft, Verkehr, Kultur oder Kinder, weil wir magnetisch angezogen werden vom Möglichen, vom Machbaren. Aber mit der so sehr angestrebten Umsetzung, in welche Richtung auch immer, verschwindet nicht nur der wirkliche Raum, sondern auch seine Möglichkeit, Möglichkeit zu bleiben.» Brachland als eine Idee ohne Umsetzung, weil wir bei der Umsetzung alle anderen Ideen aufgeben müssten.

Haut

Raoul Ris malt Raoul nackte Menschen, Menschen über fünfzig, weit ab vom gängigen Schönheitsideal. Der Körper als Terrain vague de l’âme – wo nicht nur die Sehnsucht, sondern mehr noch die Seele sichtbar wird. Der Körper als ein mit Seele erfülltes Brachland. Mit dem Alter furchiger, wird der Abdruck der Seele sichtbarer. Die Haut ist Grenze zwischen Menschen und der Aussenwelt, und einzige Möglichkeit, wie man die Seele malen kann – oder mit dem Pinsel zeichnen, wie der Maler seine Arbeitsweise beschreibt. Sein Projekt ist ein malerisches und wahrlich ein kommerzielles Abenteuer, dafür zeugt es von Menschlichkeit und Aktualität.

Zur Menschlichkeit schrieb bereits der römische Dichter Ovid: «Zeit befreit von jeglichem Makel unseren Körper» – nämlich dann, wenn man den Körper der Liebe widmet. Im Alter erst recht sollten die Menschen die Weisheit besitzen, dass der Liebesdienst die bessere Beschäftigung als Kriegsdienst sei, sagte Ovid – worauf Kaiser Augustus ihn prompt aus Rom verbannte.

Seele

Über die Aktualität von Seele kann ich nur unter Vorbehalt sprechen: ich bin konfessionslos. Aber noch 2019 war für die Zürcher Regierung klar: Seele sei ein religiöses Konzept und nichts für Konfessionslose. Das hat etwas: Religionen haben ja gerade das Ziel, die Seele – und die Sehnsucht – zu kontrollieren. Nur das Licht Gottes, das im Mittelalter durch die Fenster der Kathedrale auf die Gläubigen fiel, konnte die sündigen Körper bis zur Seele durchdringen. Auf die Suchenden und Zweifelnden fällt kein Licht.

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Aber auch mit der Aufklärung und der individuellen Seele wurde es nicht besser: Zu viele Menschen haben andere umgebracht oder versklavt mit der Gewissheit, deren Seelen seien weniger wert. Die Vorstellung einer individuell bestimmbaren Seele, die man in letzter Konsequenz sogar irgendwie wägen könnte, ist deshalb eine Sackgasse. Immer wieder ist es das Fertige, Gebaute, das dem vorläufigen, dem Brachland, die Seele raubt.

Und heute – können uns Maschinen die Seele rauben? Oder sie zumindest kopieren? Wo sitzt die Seele der Grossmutter, wenn sie in einem Pflegheim im japanischen Aichi lebt und als Tele-Roboter an der Hochzeit ihres Enkels teilnimmt und dieser sie – oder den Roboter – küsst? Wem applaudieren wir, wenn ein Roboter anstelle des Schauspielers den Theaterabend bestreitet wie kürzlich am Auawirleben-Festival in Bern? Was passiert, wenn sich Menschen über Elektroden ans Internet der Abilities anschliessen und Klavier spielen? Sind menschliche Gefühle etwas Einzigartiges, machen sie den Menschen aus? Wie behalten wir unsere Rechte, unsere Würde?

Wir haben in der Vorbereitung der Ausstellung viel über solche Fragen diskutiert. Raoul Ris haben die Diskussionen sehr beschäftigt. Für ihn ist das Du wichtig, dafür male man, und deshalb müsse man es spüren. Raoul Ris hat Bekannten einen Fragebogen verschickt mit Fragen zur Malerei. Seine letzte Frage: «Haben ein Bild, ein Musikstück, ein Text einen Sinn, auch wenn sie von keinem Menschen gesehen, gehört oder gelesen werden?» 59 Prozent der Antwortenden sagten Ja, 31 Prozent Nein. Ein Nein für die menschliche Seele: Ohne Gegenüber kein Malen. Ohne zumindest zwei Menschen keine Seele.

Anstelle von Religion, Egoismus und Maschinen sollten wir uns diesen menschlichen, verbindenden Zugang zur Seele offenhalten. Auch Stimme und Musik öffnen den Zugang zu einer Seele, welche Menschen verbindet, meinte Araxi Karnusian an einem Vorbereitungs- und Diskussionsabend. Die Vorstellung hat mich sehr berührt – die vague de l’âme, die Seelenwelle, die sich zwischen den Menschen bewegt.

Seelenwelle

So sind wir auch mit anderen beseelten Wesen verbunden: König Salomon konnte mit Tieren reden, Franziskus konnte es. Auch dazu gibt es von Raoul Ris eine Frage: «Wenn das Wort ‘Schönheit’ an unsere Emotionalität geknüpft ist, kann ein Tier einen Sonnenuntergang als schön empfinden?» 47 Prozent antworten Ja, 30 Nein. Vielleicht werden wir die Tiere eines Tages fragen können. «Deep learning»-Projekte wollen ja die Kommunikation zwischen Tieren entschlüsseln, ohne auf der menschlichen Sprache aufzubauen. Der Austausch zwischen Mensch und Tier könnte über das «interspecies internet» erfolgen, das im Aufbau ist. Die meisten Organismen, auch wir Menschen, bestehen aus mehr Zellen, die auch andere Lebewesen haben, als aus spezifisch menschlichen. Mit diesem Wissen wird der Begriff des Individuums, des im Wortsinn Unteilbaren, fragwürdig.

Wenn uns die Seelen- und Sehnsuchtswelle verbindet, dann geht das nur in Gleichberechtigung unter den Menschen und in Achtung gegenüber Tieren und Pflanzen. Mit Dominanz und Herrschaft ist das nicht vereinbar. Praktischerweise verlegen Herrscher die Erlösung der Seele immer ins Jenseits, zu den Toten. Mir sind der nackte Kaiser, der nackte Körper und die Seelen der Lebenden lieber – damit auch die Demokratie mit aller Vorläufigkeit und Unberechenbarkeit ihrer Entscheide, solange sie nicht den Anspruch aufgibt, vorerst einmal möglichst alle Menschen zu beteiligen.

Lieber Raoul Ris, herzlichen Dank für deine Bilder, deine Sprachbilder, sie erweitern das Schauen und Denken. Du arbeitest schon an einem weiteren Sprachbild – «peau de l’eau», Haut und Oberfläche des Wassers, und an den nächsten Bildern: Lebendigen Wassern vor dem Hintergrund der Bäume und Sträucher, Spiel von Licht und Schatten, Austausch. Auch zwischen Menschen ist es vielleicht eher eine durchlässige Membran an Stelle der Haut, die uns – wie Musik – mehr verbindet als trennt.  Man kann sie berühren und sich berühren lassen. Nackt ist man verletzlich und schutzlos und gleichzeitig in einem offenen Raum.

Das war meine Erfahrung als Portraitierter: Für das Foto der Vorlage stehe ich in die Sonne. Ich blinzle wie ein Sünder und Zweifler – und erhalte das im gemeinsam erfahrbaren Raum, von dir gemalt, mitgeteilt. Der beseelte Körper als ein Brachland der Möglichkeiten, der sich nicht nur über die Zeit, sondern auch im Raum und in Bezug zu unserer Umwelt verändert. Davon berichtet das Terrain vague de l’âme.