Wertvolles Kulturerbe

von Christoph Reichenau 27. März 2020

Zahlreiche Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern fristen auf Estrichen, in Kellern und behelfsmässigen Depots eine prekäre Existenz. Sie physisch zu sichern, aufzuarbeiten und zugänglich zu machen, ist wichtig für unser kulturelles Erbe. Private Organisationen, die sich darum kümmern, haben sich jetzt in einer Interessengemeinschaft vereint.

Wie viele gute visuelle Künstlerinnen und Künstler gibt es in der Schweiz? Wie viele gab es vor einer und zwei Generationen? Wieviel ist von ihrem Werk geblieben, was wird bleiben vom heutigen Schaffen? Viele Künstlerinnen und Künstler arbeiten ein Leben lang; sie schaffen Werke, richten Ausstellungen ein, verkaufen Bilder, Zeichnungen, Plastiken. Wenn sie ans Ende des Schaffens kommen, sind oft Dutzende, ja Hunderte von Kunstwerken da, mehr oder weniger geordnet, aufgearbeitet, in solidem Depot bewahrt. Was dann?

Die Sorge um ein Lebenswerk, physisch und emotional, ist das eine. Die Sorge um ein künstlerisch-ästhetisches Vermächtnis, um dessen Einordnung in den Fluss der kulturellen Entwicklung, ja der Kunstgeschichte – das ist das andere. Das eine kann man – etwas herzlos – die Sorge der Angehörigen sein lassen. Das andere geht letztlich uns alle an, wenn wir nicht kopflos sind. Denn einer Gesellschaft ohne eine Vielfalt künstlerischer Werke und einer Breite von Ausdrucksweisen fehlt etwas, durch das sie sich reflektieren, sich spiegeln, an dem sie sich reiben kann.

Nicht nur «grosse» Kunst

Dabei geht es nicht ausschliesslich um die «grosse» Kunst, die «man» kennt, anerkennt, sammelt, in Museen bewahrt. Es gibt auch die zu ihrer Zeit unbekannten, überschauten, verkannten Werke, die vielleicht erst die Nachgeborenen ansprechen, erst auf deren Fragen Antworten geben. Das Beispiel van Gogh mahnt ebenso wie in der Literatur das Beispiel Kafka.

Einer Gesellschaft, welche die Freiheit der Kunst garantiert und die Förderung der Kunst zur öffentlichen Aufgabe erklärt, kann es nicht egal sein, was mit Kunstwerken geschieht, deren Urheberinnen und Urheber nicht mehr sind. Soweit diese Werke Bestandteil öffentlicher Sammlungen sind, etwa von Museen, sind sie zumindest sicher vor Zerstörung. Soweit sie in privatem Besitz sind, ist nichts gesichert. Es erstaunt deshalb, dass sich die Gemeinden, die Kantone und der Bund bis heute allgemein für diese Aufgabe kaum interessieren. Das Bewusstsein für diesen Teil des künstlerischen Nachlasses – und damit der kulturellen Erinnerung – ist nahe bei Null. Die Erhaltung wird fast ausschliesslich Privaten überlassen. Konkret heisst dies: Was heute öffentlich gefördert wird, darf morgen und übermorgen ruhig verschwinden, wenn sich nicht jemand unaufgefordert darum kümmert. Das ist planlos.

Private Organisationen

Zum Glück gibt es private Organisationen, die sich um Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern kümmern. In Bern sind es drei: Der 1998 gegründete Verein ArchivArte, die 2008 entstandenen OVRA Archives und die 2010 ins Leben gerufene Art-Nachlassstiftung. Sie ergänzen sich primär, überschneiden sich auch ein wenig.

Sieben Organisationen aus allen Teilen der Schweiz haben sich 2019 vereint unter der sperrigen Bezeichnung «Interessengemeinschaft Künstler*innen-Nachlass-Initiativen» (IG KNI). Die Mitglieder der IG betreuen zusammen mehrere zehntausend Kunstwerke. Sie machen sie in Ausstellungen, in Publikationen sowie durch Öffnung der Archive allen Interessierten zugänglich.

Die Initiative zur Gründung der IG KNI hatte ArchivArte ergriffen. Aus Anlass ihres Jubiläums im Jahr 2018 lud ArchivArte die Nachlassorganisationen zum Orientierungsgespräch. Man erkannte als grösstes gemeinsames Problem die physische Bewahrung von Kunstwerken. Deshalb zogen sich in der Folge jene Institutionen zurück, die – wie OVRA Archives – rein virtuelle Präsenz schaffen.

IG als loser Verbund

In der Folge wurde eine Umfrage über die Bedürfnisse der Organisationen durchgeführt; die Antworten ergaben eine Richtlinie für die gemeinsame Tätigkeit. Geklärt wurde zudem die besondere Rolle der Beratungsstelle am SIK als sogenannte «go-between»-Institution; diese vermittelt einerseits zwischen Nachlassgebern, Nachlassorganisationen und Kunstschaffenden; sie macht andererseits Standorte von Nachlässen und Kunstwerken digital bekannt.

Im September 2019 wurde die IG als loser Verbund gegründet mit dem Zweck, sich auszutauschen und gesamtschweizerisches Sprachrohr der gemeinsamen Anliegen zu werden. Gemeinsam soll ein Netzwerk geknüpft und eine nationale Plattform aufgebaut werden. So werden es Neugründungen leichter haben. Solche werden längerfristig angestrebt, etwa für die Ostschweiz. Entstehen soll mit der Zeit eine gesamtschweizerisch repräsentative Organisation mit regionalen Orten physischer Präsenz nachgelassener Kunstwerke. Die regionale Präsenz ist gerade für weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler wichtig.

SIK garantiert Qualität

Durch die IG soll das Bewahren künstlerischer Nachlässe als Teil des gemeinsamen Kulturerbes gestärkt werden. In diesem Sinn forderte die IG KNI in einer Stellungnahme zur Kulturbotschaft 2021-2024 des Bundesrats die Unterstützung der «Sammlungs- und Bewahrungstätigkeit, also die eigentliche Funktion der Kunstarchivierung».

Noch nicht beteiligt an der IG ist visarte, der Berufsverband visueller Künstlerinnen und Künstler, ebenso wenig die Schweizerische Gesellschaft bildender Künstlerinnen, die durch ihre Ex-Zentralpräsidentin Inga Vatter-Jensen seinerzeit an der Gründung von ArchivArte teilhatte.

Soll denn nun alles bewahrt werden? Nein, das kann nicht sein. Die Frage der Qualität ist unabweislich. Dafür gibt es eine Referenz. Das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft (SIK) in Zürich führt mit dem SIKART das Lexikon zur Kunst in der Schweiz.

Kontakt: , www.ig-kni.ch, www.ovra-archives.com, www.art-nachlassstiftung.ch