Arte povera im Keller

von Christoph Reichenau 3. Januar 2020

Berns Theaterkultur war nach dem Zweiten Weltkrieg lange in Kellern der Altstadt beheimatet mit der «Rampe» als bekanntestem Beispiel. Sie lebt fort, in vielen Formen, zum Beispiel im «Berner Puppentheater».

Gerechtigkeitsgasse 31. Geöffnete Läden links und rechts. Steiler Treppenabgang, links ein Schalter, rechts ein Podest. Nochmals ein paar Stufen, dann ist man angekommen. Der Raum des Puppentheaters ist überraschend klein. Um zur Garderobe hinter einem Vorhang zu gelangen, muss man ihn in ein paar Schritten durchqueren. Nun sitzt man als Erwachsener eng, doch bequem auf einem Sitz mit freier Sicht auf die Bühne.

So ist es, weitgehend unverändert, seit 1992 Monika Demenga und Hans Wirth mit ihrer Berner Puppenbühne eingezogen sind, die sie damals schon 24 Jahre betrieben hatten. Sie folgten auf Rolf Meyer und Martin Friedli, Puppenspieler, die den ehemaligen Weinkeller 1980 als Bühne hergerichtet und mit Radek Barosch bespielt hatten. Mit Demenga/Wirth begann «das» Puppentheater, wie es bis 2017 unzählige Kinder, Schulklassen, aber auch viele Erwachsene kennenlernten.

Vorurteile

Ein Puppentheater, das Klassiker hervorbrachte und immer wieder neue Stücke und tolle Inszenierungen in sämtlichen Formen dieser ebenso traditionellen wie avantgardistischen Bühnenkunst. Sie wird oft geringgeschätzt und nicht für voll genommen, weil sie – sagt man – mit bescheidenen technischen Mitteln auskommt, weil sie vom Zauber der Nähe lebt, von einer fast physischen Beziehung zwischen den SpielerInnen und den Zuschauenden. Nicht selten spricht man dem Puppentheater zeitgenössische Relevanz ab und gesellschaftliche Analyse. Viele verstauen es in die Ecke des Verstaubten, des reinen Repertoires, des Wiedergekäuten. Und nicht selten wird dem Puppentheater zum verhängnisvollen Vorwurf, dass ein guter Teil seines Publikums Kinder – und zumal ganz kleine Kinder – sind, für die man doch eigentlich nur das Beste gut genug findet.

Dies sind Vorurteile. Das Puppentheater allgemein ist arte povera im besten Sinn. Es kommt mit kleinem Raum, einfacher Infrastruktur (Licht, Ton, Projektion), wenigen Requisiten aus. Im Zentrum «leben» die oftmals sehr kunstvoll gestalteten «Puppen» – Figuren jeglicher Art, die oder deren Schattenwurf von zwei oder drei Personen geführt werden. Eine Geschichte wird packend erzählt und mit Musik bereichert. Damit es stimmt, muss Puppentheater einfach sein und gerade diese Anforderung stellt höchste Ansprüche an die Erzählung wie an die Technik der Figurenführung.

Das Puppentheater ist gewachsen

In beidem waren Monika Demenga und Hans Wirth während ihrer 25 Jahre Meisterin und Meister. In einer Zeit, in der das Regietheater überhandnahm und Ausstattungsorgien gefeiert wurden, besannen sie sich auf das Ursprüngliche, das Bedeutungsvolle der wichtigen Geschichten (etwa der Weihnachtsgeschichte) und stellten diese in einleuchtenden Bildern und ohne Kindertümelei, aber an geeigneten Stellen durchaus mit Humor und feiner Ironie dar. So führten sie Kinder an das Theater als ernsthaftes Spiel des Lebens heran. So verzauberten und überraschten sie Erwachsene mit neuen Themen und Darstellungsformen.

Das Puppentheater ist mit uns gewachsen, wir sind ihm nicht entwachsen. 2016 endete die Ära Demenga/Wirth. Im Januar 2017 übernahmen Karin Wirthner und Frank Demenga das Theater. Sie führen Bewährtes fort und erproben mit Erfolg Neues.

Das Puppentheater im Untergrund der Gerechtigkeitsgasse 31 ist einer der letzten lebenden und lebendigen Zeugen aus der Zeit der «Berner Theaterkeller». Es sucht über das Angestammte hinaus neue Themen und Darbietungsformen. Im November etwa war eine Performance zu sehen und zu hören, bei der stimmungsvolle Fotos von Marcel Imsand zum Leben des Wanderhirten Luigi im Waadtländer Norden projiziert, mit der Lesung beschreibender Texte und bekannter Gedichte erklärt und von Musik begleitet wurden – eine anregende, besinnliche und «das andere», fast Archaische unserer schnelllebigen Zeit spürbar machende Darbietung. Neu sind unter dem Titel «Genie und Wahn» auch Porträts bekannter Künstler (Robert Walser, Gogol, von Gogh, Maria Callas) mit Biographie, Projektionen und Live-Musik.

Kultur im Doppelsinn

Längere Zeit unterstützte die Stadt das Puppentheater als kreativen Ort mit Leistungsvereinbarung. Dies ist derzeit nicht mehr der Fall. Mit einer von zahlreichen Kindern und Erwachsenen unterzeichneten Petition an den Stadtpräsidenten machte das Puppentheater vor einem Jahr auf seine prekäre Lage aufmerksam und forderte die Rückkehr zu regelmässigen Subventionen. Dies erscheint mir verdient. Puppen- oder Figurentheater vereint beispielhaft die beiden Seiten dessen, was man Kultur nennt: Es führt ein in das Hergebrachte und nimmt einen dafür ein. Und es befähigt, darüber hinaus zu sehen, zu gehen, den Keller zu verlassen und die Welt zu verändern.