Die Sammlung mit frischem Blick befragt

von Christoph Reichenau 14. Dezember 2019

Eine junge polnische Philosophin, die nach Anfängen im Pariser Centre Pompidou elf Jahre am Kunstmuseum Warschau wirkte, arbeitet sich durch die Sammlung des Kunstmuseums Bern und kuratiert eine Auswahl unter dem Titel «Alles zerfällt». Eine Wucht.

Am Anfang stand für Marta Dziewanska der von Direktorin Nina Zimmer ausgestellte Freipass, die Sammlung des KMB mit neuem Blick frei zu sichten und zu zeigen. Das tat sie – und wie.

Das erste Bild, auf das wir in der Ausstellung stossen, ist Ferdinand Hodlers monumentales, mehrteiliges Werk «Absturz IV» (1894), das üblicherweise im grossen Saal des Alpinen Museums hängt. Es zeigt die Erstbesteigung des Matterhorns 1865 und, nach dem Sturz eines Mitglieds, den tödlichen Fall eines Teils der Seilschaft. Eine Metapher für Hochmut, vergleichbar dem Absturz von Ikarus in der Antike; der junge Mann kam im Flug der heissen Sonne so nahe, dass das Wachs schmolz, mit dem die Federn seiner künstlichen Flügel befestigt waren. Er stürzte ins Meer.

Nach Hodlers «Absturz» wandern wir vorbei an Frank Buchsers nachdenklichem Mädchen über dem Meer («Flutumfangen», 1876), an einem Landschaftsbild Adolf Stäblis (1842-1901) mit aufziehendem Unwetter und weiter zu Annie Stebler-Hopfs (1861-1918) «Märjelensee». Die Bilder stammen von Schweizer Künstlerinnen und Künstlern, wurden gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffen. Keines gleicht dem anderen. Jedes verdient genaue Betrachtung. Doch was verbindet diese Werke? Aus welchem Grund hat Marta Dziewanska gerade sie aus dem Fundus der Sammlung gewählt? Warum die Konzentration auf jene Zeit? Und weshalb stellt sie ihre Ausstellung unter den Titel «Alles zerfällt»?

Ein kleines Philosophicum …

Treten wir einen Schritt zurück. Auf der Suche nach einer Leitfrage oder einem Kompass für die Durchforstung der Bestände stiess die Kuratorin nach der Entdeckung von Hodlers Gemälde auf Sigmund Freud. In seiner Schrift «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse» aus dem Jahr 1917 nannte der Wiener Arzt die Widerstände herkömmlichen Denkens, die zu überwinden waren, bevor sich seine Psychoanalyse durchsetzte. Die Widerstände kamen, so Freud, aus narzisstischen «Kränkungen der Menschheit». Grund der Kränkungen waren wissenschaftliche Erkenntnisse, die das Selbstverständnis der Menschen in Frage stellten und damit starke Gefühle aller verletzten: Kopernikus‘ Entdeckung (1543), dass die Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls ist; Darwins und Wallaces Theorie der Evolution (1858), nach der die Menschen sich aus früheren Lebensformen entwickelt hatten; und Freuds eigene Lehre des Unbewussten, wonach sich ein Teil des Seelenlebens der Kenntnis und Herrschaft des bewussten Willens und der rationalen Überlegung entzieht.

«Alles zerfällt», der Titel der Ausstellung, stammt aus dem Gedicht «The Second Coming» des irischen Nobelpreisträgers W.B. Yeats (1865-1939) aus dem Jahr 1919. Nach den Schrecken des ersten Weltkriegs und im Bewusstsein der sozialen Probleme der im Bürgerkrieg zerrissenen Insel schrieb der Dichter: «Things fall apart, the center cannot hold; mere anarchy is loosed upon the world.» The center cannot hold – die starke, ordnende, Orientierung bietende Mitte ist weggebrochen.

Absturz nach der Hybris des Aufstiegs, Kränkung, Zerfall. Etwas gewaltsam auf einen Begriff gebracht heisst dies: Relativität. Sie bestimmt das Gefühl der Zeit am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Mensch ist nicht Herr im Haus, er bestimmt nicht den Gang der Dinge, er kennt nicht deren Grund. Im Gegenteil: Je tiefer die Wissenschaft eindringt in die Natur und in die Psyche, desto stärker zerfallen Gewissheiten: das Atom ist teilbar, alles ist relativ (Einsteins Schrift von 1905), das Beobachtete hängt ab vom Beobachtenden. Selbstbestimmung wird fragwürdig, Selbstsicherheit brüchig. Auch der aufkeimende Individualismus spaltet, vereinzelt. Für ewig Gehaltenes erweist sich als zeitbedingt. Imperien stürzen ein. Der Mensch ist Teil der Natur, nicht mehr, nicht weniger, ihren Kräften ist er nicht gewachsen. Diese Erkenntnis überfordert viele, gerade im Hamsterrad eines in den Städten beschleunigten Alltags. Die Krankheit der Zeit heisst Neurasthenie, gereizte Schwäche, unbestimmt und schwer behandelbar wie heute vielleicht Burnout.

… stellt den Kompass ein

Das herausdestillierte Grundgefühl der damaligen Zeit, abgekürzt eben Relativität oder «Alles zerfällt», dient nun Marta Dziewanska als Orientierungsrahmen für das Durchforschen der KMB-Sammlung. Sie konzentriert sich auf Schweizer Künstlerinnen und Künstler und bezieht auch die Leihgaben des KMB im Hotel Giessbach ein. Ihre Frage: Welche Werke haben Bezug zu diesem Gefühl, beziehen sich darauf, sind davon inspiriert oder prägen es mit?

Die Beute ihres Streifzugs, etwa hundert Bilder, gliedert die Kuratorin in zwölf Abteilungen. Ihre Titel gehen von «Das zerschlagene ‘Ich’», über «Ein Fremder im Selbst» oder «Halb Mensch – halb Tier» und «Die Landschaft als Gemütszustand» bis «Heimgesuchte Häuser» und «Schwindel». Jede Abteilung zeigt, wie die Künstlerinnen und Künstler an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert das Thema aufgenommen, be- und verarbeitet haben.

Die Liste der Künstler umfasst grosse Namen, etwa Amiet, Hodler (überwältigend: «Die enttäuschten Seelen»), Böcklin, Vallotton, Buchser, Calame, Koller. Sie ergänzt diese durch – für mich – eminente Entdeckungen: Annie Stebler-Hopfs «Märjelensee» ist ein fast magisches Landschaftsbild mit einem Pendant im Familienkreis «Entre nous» (1904). Clara von Rappard ist wieder einmal zu sehen, aber auch Louise Catherine Breslaus emanzipatives Gemälde «Contre-jour».

Überraschungen, Entdeckungen

Überraschend auch einzelne Werke, die an sich bekannte Künstler in ungewohnter Weise zeigen. Dazu gehören von Félix Vallotton «1914, paysage de ruines et d’incendies» (1915) sowie Bilder von Ernst Kreidolf, die einen ganz anderen Maler erkennen lassen als den der lieblichen Blumen- und Wintermärchen.

Eine eigene Abteilung füllt Adolf Wölfli mit Werken aus seiner erfundenen Lebensgeschichte, dem von ihm so genannten «Unglücksfall». Einzigartig die Verbindung von Innenwelt und Aussenwelt (in Form von Zeitungsausschnitten, Fotos usw.) auf dem gleichen Blatt in strenger Gleichmässigkeit.

Jedes einzelne Bild in dieser Ausstellung lohnt Aufmerksamkeit und Verweilen, verbunden mit der Frage, welches sein Bezug zur Generalfrage der Sammlungserkundung von Marta Dziewanska ist. Nicht alle Bezüge überzeugen, der Orientierungsrahmen wirkt zuweilen als starres Korsett, die Zuordnung manchmal als gesuchte Illustration einer fixen kuratorischen These.

Doch das ist ein geringfügiger Einwand. Im Ganzen ist Marta Dziewanska ein Wurf gelungen – eine eigenständige, wuchtige Komposition, eine Bildergalerie, die zeigt, wozu man historische Sammlungen befragen und für unsere Zeit nutzen kann, die ihrerseits Mass und Mitte zu verlieren droht. Wenn man eine relevante Frage hat und den Mut, ihr nachzugehen. Die Chance, dies zu tun, haben nun wir alle.

 

Bis 20.9.2020, Begleitprogramm und Führungen. www.kunstmuseumbern.ch