Wer bin ich, wenn du nicht du bist?

von Christoph Reichenau 17. März 2019

Eine Science-Fiction-Oper für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene betäubt die Vidmar 1. Viel spielerische Künstlichkeit, weniger musikalische Kraft, letztlich ein Märchen, das schreckt und zum Nachdenken anregt.

Wir sind im Jahr 2037. Bei einem Unfall ist Jonahs Freundin Vivienne ums Leben gekommen. Aus Liebe baut Jonah (Per Lindström) Vivienne (Larissa Angelini) als künstliches Wesen nach, füttert sie mit Daten, modelliert sie nach seinem Geschmack. Bald ist ihm das Kunstwesen verleidet; Jonah trennt sich von ihm und baut ein zweites, Alma (Orsolyna Nyakas).

In diesem Moment setzt die Oper ein. Alma stakst ins Leben im hübschen Röckchen mit mechanischen Schritten. Jonah freut sich seines Werks, Alma lernt mit eingetrichterten Sätzen, sich am Frühling zu freuen. Doch nur kurz: Vivienne tritt auf, möchte Jonah zurück, erinnert ihn an den Moment ihrer ersten Begegnung. Jonah hört jene Sätze, die er damals Vivienne einprogrammiert hat. Er schickt sie weg und nun kommt nach der realen auch die künstliche Vivienne zu Tode.

Währenddessen tappt ein weiterer Roboter, männlich, mit Staubsauger umher (Michal Marhold), die Mensch gewordene (oder gebliebene) Form der bereits heute in vielen Wohnungen saugenden Geräte. Alma erhält Besuch vom «Kind» (Oscar Verhaar), einem unschuldigen Wesen im weissen Tutu mit goldener Krone, das dem Rumpelstilzchen gleich Verse plappert, die nach Dada tönen und in die Drohung münden, der Königin ihr Kind nehmen zu wollen. Alma und das Kind freunden sich an. Das der Märchenwelt entstammende Kind wird zum Hüter der in ihrer Technizität beschränkten Kunstfrau.

Deren Bedrohung kündigt sich in einem Albtraum von Jonah an, den mehrere Viviennes heimsuchen, derer er sich erwehren muss, indem er eine davon umbringt.

Freund Piet (Wolfgang Resch) teilt mit Jonah die Leidenschaft für Robotertechnik. Er ist von den Erfindungen gleichermassen beeindruckt und geängstigt. Piet rät Jonah, einen Apparat zu besorgen, um mit diesem notfalls die Oberhand  über die geschaffenen Wesen zurückzuerlangen, indem er deren Elektronik vollständig löscht. Doch Jonah zögert, den Apparat einzusetzen und seine Welt unwiderruflich zurückzulassen.

So nimmt der Albtraum seinen Lauf: Der Staubsaugermann erschlägt seinen Schöpfer. Im Chaos entfliehen das Kind, Alma und Piet ins Publikum. Ende.

Pamela Dürsts Libretto erzählt eine Fantasie, die einerseits schlecht ausgeht, andererseits offen lässt, was die Geflohenen finden werden. Denn das Märchenkind, das seiner Erscheinung zum Trotz recht real wirkt, und die real gewordene Kunstfrau, die sich ihrer immanenten Beschränkung nicht bewusst ist, sind nun wie der Mensch Piet «in der Welt». An einem neuen Ort werden sie Zugewanderte sein, Fremde, Andere, die sich zu integrieren haben, ob Märchengeschöpf oder Roboterfrau, dank künstlicher Intelligenz die eine, durch seine poetische Erinnerung das andere.

«humanoid», von Cordula Däuper inszeniert, ist eine Science-Fiction-Oper, entstanden in Koproduktion von Theater Winterthur, Musikkollegium Winterthur und Konzert Theater Bern. In Winterthur, wo im Februar die Uraufführung stattfand, wurde sie als Oper für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene betitelt; in Bern fehlt dieser Hinweis.

Ich bin 73. Fragen der künstlichen Intelligenz, der Robotik, der Verdinglichung unserer Umgebung (Internet der Dinge) sind mir nicht ganz fremd, besonders mit Blick auf die Zukunft der Pflege, der Arbeit überhaupt. Wenig davon habe ich in »humanoid» gefunden, dieser Collage aus verfremdeter Pygmalion-Romantik, Überforderung des Zauberlehrlings und schräger Geschichte. Ist das die mir fremde Welt der Games? Die Geschichte packt mich nicht. Und nur selten kommen mir Alma oder der Staubsaugermann Juri wirklich wie Roboter vor.

Überzeugt hat mich das Bühnenbild (Ralph Zeger), eine Anordnung zweier sich kreuzender Stege, deren Oberflächen von unten beleuchtet werden können, was zwischen natürlicher Anmutung und greller Künstlichkeit viele Stimmungen ermöglicht.

Hinter den Laufstegen auf der Bühne spielt ein Ensemble des Berner Symphonieorchesters mit 13 MusikerInnen unter der Leitung von Sebastian Schwab die Partitur von Leonard Evers. Anklänge an bekannte Themen, gekonnte Kratz- und Quietschtöne. In den stärksten Momenten verleihen sie dem Geschehen eine gelöste oder beklemmende Atmosphäre: im Frühlingserwachen, in der Bedrohung, im Zusammenbruch der künstlichen Welt. Aber zugegeben: Die Handlung auf der Bühne drängt für mich den Gesang und das musikalische Spiel in den Hintergrund.

Gern wüsste ich, wie die Jungen dies wahrnehmen, die in grosser Zahl bei der Première dabei waren und mitgingen. Haben sie ähnliche Bilder im Kopf wie die auf der Bühne gezeigten? Sehen sie die Zukunft – die nahe Zukunft, denn 2037 ist bald – etwa so oder ganz anders? Macht sie ihnen Angst? Ist sie ihnen vertraut, da in Computerspielen vorweggenommen? Im Programmheft werden u.a. SchülerInnen einer 7. Klasse der Oberstufe Kehrsatz zitiert, mit denen Dramaturgin Barbara Tacchini vor der Première zusammengearbeitet hat. Zwei Aussagen: «In ein paar Jahren werden die Roboter besser sein als wir und sich überlegen, warum arbeiten wir für die Menschen?» Und: «Jetzt stoppen! Weil wer weiss, zu was wir Menschen alles fähig sind; auf einmal entsteht irgendetwas, was nie gewollt wurde.»

Mir ist die Oper zu künstlich, teilweise zu gekünstelt. Für Reflexion während der Aufführung ist keine Zeit, obwohl einzelne Sätze hängen bleiben («Es braucht die Löschfunktion, sonst seid ihr unberechenbar»; oder «Deine Welt, alles Dein Werk»). Zum Glück wird der Text auf einem Bildschirm über der Szene eingeblendet (Inspizienz Annette Huber, Stephania Dolezal), danke. Dennoch: Erst wenn Ruhe eingekehrt ist, melden sich Überlegungen. Haben wir Menschen die von der Wirtschaft mit voller Kraft vorangetriebene Entwicklung «im Griff»? Erkennen wir die Grenze zwischen dem Nutzen der Robotik und der Gefahr durch ihre Überhandnahme? Kann ein Gebilde mit künstlicher Intelligenz selber lernen und wenn ja, wie und was? Schaffen wir mit einem Roboter als Liebste (wie Jonah) ein Du oder bestenfalls ein zweites Ich? Und wenn es kein Du wird und werden kann (was ich aus tiefstem Herzen hoffe), höhlt dann das Ich, das sich eine Gefährtin konstruiert, sich nicht letztlich selber aus?

Dass ich auch Tage nach dem Spektakel darüber nachdenke: Kein schlechtes Zeichen für das Thema und für die Aufführung, die mich überfordert, aber auch anregt.

Mag sein, dass auf die dem Chaos und der Bühne Entflohenen, auf Piet, Alma und das Kind, Eichendorfs Verse passen:

Wir sehnen uns nach Hause

Und wissen nicht, wohin?