Das elfte Feld

von Christoph Reichenau 10. Januar 2019

Sind kleine Kunstgalerien noch zeitgemäss? Eine Galeristin fragt (sich). Ihre Antwort: Ja – erst recht, wenn sie mit den anderen Kunstbetrieben zusammenarbeiten. Im Interesse der Kunst und ihrer Bedeutung für uns. Fast ein Programm.

Sie heissen ArchivArte, Art+Vision, Bernhard Bischoff & Partner, Béatrice Brunner, da Mihi, DuflonRacz, Henze &Ketterer, Oktogon, Kunstreich, Muster-Meier, Reflector, SOON, Tom Blaess – die Kunstgalerien in Bern, die guter Tradition gemäss nächstes Wochenende ihre Türen öffnen. Aus dem Kunstleben der Stadt sind sie nicht wegzudenken, auch wenn es immer wieder Schliessungen und Neueröffnungen oder Übernahmen gibt.

Nun fragt Barbara Marbot, Leiterin der Galerie da Mihi (in der Nachfolge des Kunstkellers an der Gerechtigkeitsgasse 40) in einem eben erschienenen Buch: Sind kleine Galerien noch zeitgemäss? In einer breiten Argumentation, die über 120 Seiten ausholt, kommt die Autorin zum kaum überraschenden Schluss: Ja. Sie erklärt: «Die kleine Galerie ist der soziale und überschaubare Ort für Kunst, wo sich Künstler/innen und andere Akteur/innen begegnen und unmittelbar miteinander verhandeln und debattieren können. Hier sind die Galerist/innen meist persönlich anzutreffen (…). Die besten Künstler/innen zeigen ihre neueste Kunst – mehr Potenzial, um Neugierde zu wecken, gibt es kaum.»

Schon in der Einleitung beantwortet Dolores Denaro, ehemalige Leiterin des Centre Pasqu’Art in Biel und Herausgeberin des Buchs, die Frage so: «Es gibt kaum Alternativen, wie Kunstschaffende mit ihren Karrieren beginnen können, als in einer kleinen Galerie und in Off-Spaces.»

Ein Weg durch die Geschichte

Zwischen Einleitung und Schlussfolgerung schildert die Autorin konzis und ergiebig eine in der eigenen Galerie durchgeführte Kunstaktion, für die ein Wettbewerb durchgeführt wurde («Das Wesen der Verpackung» – ohne öffentliche Förderung). Lange führt uns Barbara Marbot durch eine bebilderte Geschichte des öffentlichen Raums, des Museums und des Raums der Galerie. Sie folgt dabei sehr ausgiebig und etwas eng Brian O’Dohertys Abhandlung «In der weissen Zelle, Inside the white cube» von 1976/1996. Andere Autoren – Oskar Bätschmann, Markus Brüderlin, Peter Weibel – spielen die zweite Geige und Hans Haacke, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Jürgen Habermas oder Hilmar Hoffmann kommen am Rand vor.

Der Gang durch die Zeit und durch die Typen der Kunstorte folgt keiner strikten Gliederung; Beschreibung und Besprechung fliessen ineinander, Manches ist nur angetippt oder nicht an die hiesigen Besonderheiten angepasst. Dies gilt etwa für die interessante grafische Darstellung des «Kunstsystems», also der Stationen des Berufswegs eines Künstlers/einer Künstlerin von der Ausbildung bis zum Verkauf von Werken an Privatsammlerinnen und –sammler. Im imponierenden Tableau fehlen z.B. die Unterstützungsformen der Projektförderung, von Atelieraufenthalten oder von öffentlichen Kunstwettbewerben, in der Legende werden sie erwähnt. Korrekt, aber nicht leicht verständlich.

Lücken, Einwände

Zentrale Stichwörter werden als bekannt vorausgesetzt und nicht näher erörtert. So ist es vor allem mit dem immer wieder verwendeten titelgebenden Begriff des «Verhandelns», der sich zumindest mir bis zum Schluss nicht gänzlich erschloss. Und natürlich gibt es Aussagen, die zum Widerspruch herausfordern.  Zum Beispiel: «Die Galerie ist ein Symbol der Entfremdung zwischen Künstler/innen und der Gesellschaft, ein abgesonderter Ort im Modus eines Prototyps, welcher in seinem zeitlosen Zustand verharrt.» Da würde ich entgegenhalten, die Galerie bringe Künstlerinnen und Künstler mit der Gesellschaft zusammen, vermittle und verbinde.

Oder: «Der gemeinsame Nenner der zwei (…) beschriebenen Typen von Künstler/innen – Wissbegierige und Weltverbesserer – ist die Entfremdung der Kunst von gesellschaftlichen Zwecken.» Meine Frage: Was, wenn nicht Weltverbesserung im weitesten Sinn ist Zweck der Gesellschaft und wie gelangen wir zu Verbesserungen, wenn nicht durch Neugier, Forschen, Wissenwollen?

Doch dies sind kleine Mäkeleien und Einwände. Denn immer wieder biegt Barbara Marbot Krummes gerade, etwa wenn sie zur Galerie als Ort des Diskurses und des Austauschs schreibt: «Mittendrin steht die Person der Galeristin, des Galeristen, die sich als Vermittlerin und Verhandlerin zur Verfügung stellt.» Und unerwartet stösst man auf Informationen, die für Bern aktuell sind: «In Oslo (…) konnten die Bürger/innen zu den Entwürfen des Bauvorhabens der Neuen Oper und der Erweiterung der Nationalgalerie Stellung beziehen und über die zur Auswahl stehenden Entwürfe demokratisch abstimmen.»

Konkrete Vorschläge

Am Schluss wird es konkret. Barbara Marbot entwickelt wichtige Gedanken zur Verbesserung der Kooperation zwischen Galerien, Künstler/innen-Organisationen und Kunstsammler/innen. Sie plädiert dafür, die Galerien vermehrt als Orte der Nachwuchsförderung von Künstlerinnen und Künstlern wahrzunehmen und ihrerseits zu unterstützen. Und sie postuliert zwei kulturpolitische Massnahmen als Zusatz zur bestehenden Förderung:

–        Vor dem Hintergrund, dass Jahr für Jahr zahlreiche neuausgebildete Künstlerinnen und Künstler die Kunsthochschulen verlassen, aber die Zahl der Galerien kaum wächst, wird ein Gutschein vorgeschlagen. Diesen erhalten die Einwohnerinnen und Einwohner jährlich. Sie können dafür bei ausgewählten Galerien Kunstwerke lokaler Künstlerinnen und Künstler kaufen.

–        Die öffentliche Hand vergibt regelmässig Gutscheine für eine Einzelausstellung an Künstlerinnen und Künstler. Diese können den Bon bei einer Galerie einlösen. Die Galerie wird für ihre Arbeit entschädigt, die Künstlerin/der Künstler erhält Sichtbarkeit.

Es fällt auf, dass Barbara Marbot diese interessanten, moderaten Anregungen sehr zurückhaltend formuliert und nicht eindeutig an bestimmte Adressaten richtet. Dabei geht es klar um die Stadt und den Kanton Bern, bei der ersten Massnahme auch um die Hochschule der Künste, die für ihre Absolventinnen und Absolventen Mitverantwortung übernehmen muss.

Die Stimme einer Sammlerin

In einer Art Schlusswort setzt sich Sabine Hahnloser Tschopp für die Kunstgalerien ein. Sie ruft die Künstlerinnen und Künstler auf: «Verkauft nicht direkt an Sammler, ohne die Galerien mitverdienen zu lassen.» Und: «Bleibt euren Ursprungsgalerien bei einem wichtigen Wechsel treu.» 

Die im Kunstmuseum und in der Kunsthalle aktive Sammlerin beleuchtet die Situation aus meiner Sicht etwas eng aus der Perspektive derjenigen, die ein bestimmtes Sammlungsziel verfolgt und sich nicht einfach vom Gefühl (das nicht ohne Verstand sein muss) leiten lässt. Insofern spricht sie für eine bestimmte Gruppe, aber kaum für die Mehrheit der Leute, die zum Glück immer noch und immer wieder in Galerien kaufen.

Ein Blick zurück

Vor zehn Jahren hat der Gemeinderat in der Kulturstrategie 2008-2011 der Stadt Bern geschrieben: «Die Galerien sind Kleinunternehmen, die in der Szene der bildenden Kunst auf eigenes Risiko eine wichtige Aufgabe erfüllen. Sie entdecken neue Talente, sie halten bewährten Künstlerinnen und Künstlern die Treue. Sie beleben mit dem Galerienwochenende die Altstadt. Sie haben sich vor zwanzig Jahren zusammengeschlossen, um gemeinsam mehr zu bewirken. Mit der vorliegenden Strategie ändert die Stadt ihre bisher sehr zurückhaltende Politik gegenüber den Galerien: In Zukunft werden Galerien bei speziellen Projekten unterstützt und bei Ankäufen berücksichtigt.»

Hereinbrechende Ränder

Mich freut, dass mit Barbara Marbots Buch zum zweiten Mal innert kurzer Zeit ein wichtiger kulturpolitischer Anstoss in Bern eher vom Rand als aus der Mitte der Kulturszene kommt. Mitte 2018 hat Barbara Balba Weber ihr Buch «Entfesselte Klassik, Grenzen öffnen mit künstlerischer Musikvermittlung» publiziert, in dem sie ihre langjährige Erfahrung in der Vermittlung Neuer Musik sowie als Dozentin an der HKB zusammenfasst.

Beide Denkanstösse bestätigen Ludwig Hohls Feststellung von den «hereinbrechenden Rändern»: «Wir gelangen nicht vom Allgemeinen zum Speziellen, sondern vom Speziellsten zum Allgemeinsten. Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. (…) Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern. (…) Zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen, des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren…, dort wo der allgemeinen Meinung nach nur die ‚unpraktischen‘ und nebenhinaus geratenen Fachleute sich beschäftigen können. Und dann … langsamer und rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt.» (Dass fast alles anders ist, 1967)

Mehr Solidarität

Warum der Titel «Das elfte Feld»? Ein Galerist in Berlin, Alexander Koch, konstatiert, die heutige Kunstszene sei in zehn Felder fragmentiert: In das repräsentative, das folkloristische, das propagandistische, das monetäre, das narzisstische, das mediale, das korporative, das kreative, das therapeutische, das emanzipatorische Feld. Viele Personen seien in mehreren der such überschneidenden Feldern tätig, die einerseits konkurrieren, andererseits auseinanderdriften. Koch schlägt ein elftes Feld vor, das auf einer Metaebene die zehn verbindet und zu gegenseitiger Solidarität anstiftet. Bodennäher ausgedrückt: Je unterschiedlicher die Akteure sind, desto wichtiger ist die Zusammenarbeit unter ihnen. Nur so gelingt es ihnen, die knappe Ressource Aufmerksamkeit auf die zeitgenössische bildende Kunst zu ziehen.

Dies ist die etwas verklausulierte und erstaunlich zaghafte Botschaft des Buches: Wir müssen kooperieren, nicht konkurrieren. Es braucht uns alle und die öffentlichen Förderstellen sollen dies einsehen. Niemand wird erstaunt sein, dass eine Galeristin dafür plädiert. Alle werden sich die Augen reiben, wenn die Grossen der Szene – das Kunstmuseum, das Zentrum Paul Klee, die Hochschule der Künste – sich dieser Überzeugung mit Taten anschliessen. Tun sie es, dann und nur dann hat Bern die Chance, ein aussergewöhnliches Biotop für die Kunst der Gegenwart zu werden.