Wer hat Angst vor Kulturvermittlung?

von Thomas Jacobi 9. Mai 2018

Am 19.-21. April fand am Konzert Theater Bern die jährliche Konferenz des RESEO, European Network for Opera and Dance Education, unter dem Motto «Shifting Perspectives» statt. Anlass, sich auf den humanen Stellenwert und die praktische Verankerung der Kulturvermittlung zu besinnen angesichts zweier Positionen, die auch dem Berner Kulturleben sowohl im Förder- als auch im Praxisbereich nicht fremd sind.

Was es wohl ist, dieses Ding «Vermittlung», wie in Musikvermittlung, Kunstvermittlung, Kulturvermittlung und so weiter?

Manche denken dabei an Kindercrèche vor dem Konzert, an illustrativ-populäre Verniedlichung von gehaltvollem Inhalt fürs ahnungslose Publikum oder an eine wohlwollende Duldung von Jugendlichen während dem Probeprozess, idealerweise als ideengebende StatistInnen. Kurz, an den leidigen Preis, den es zu zahlen gilt im Zeitalter lästig egalitär ausgerichteter Kulturförderung.

Oder es löst gar Grausen und Widerstand aus: Ein alter Zopf aus einer paternalistischen Epoche, Entmündigung und Indoktrination durch die Mehrheitskultur der VermittlerInnen, die den Quell natürlich vorhandener Kreativität und sozial emanzipierender, originaler Mitsprache im Kulturprozess ersticken.

Humaner Stellenwert

Irgendwo in der Mitte, unterwegs zwischen verschiedenen Kulturen, Gesellschaften, Lebensaltern, Förderbestimmungen, Sprachen, Institutionen, Technologien und Philosophien tummelt sich das Völklein der professionellen VermittlerInnen. Eine diverse Gruppe, die in überlappenden und doch individuellen Karriereschleifen viel an Berufs- und Lebenserfahrung aufgesogen hat.

Sowenig oder so viel wissen sie: Kulturvermittlung und -beförderung entsteht weder im Raum tatenlosen Zusehens, nachdem man die Fördersumme an die Zielgruppe überwiesen hat, noch im bevormundenden Verwalten und Belehren von Problemgruppen. Und schon gar nicht beim nebenbei arrangierten Kulturbeschäftigungs-Programmpunkt einschliesslich Photo Opportunity für die Förderer, im Feigenblatt-Modus sozusagen.

Kulturvermittlung, so scheint es, ist harte Arbeit, gerade wo sie auf die sanftest mögliche Art lediglich Möglichkeiten andeutet, Horizonte auftut und Räume für die eigene Inspiration einrichtet. Sie ist gewissermassen ihre eigene Kunst – die der wohl recherchierten und durchdachten Verführung, sich mutig den Grenzen sprengenden Möglichkeiten der persönlichen Fantasie anzuvertrauen.

Praktische Verankerung

Diese Einführung in unsere wilde Natur fängt nicht selten mit dem eigenen Körperbewusstsein an, das, von den alltäglichen Gewohnheiten aufgeschreckt, wieder für Neues offen wird. Wie im Workshop von Tuula Jukola-Nuorteva, Finnish National Opera and Ballet, die gestandene MusikvermittlerInnen nicht mit dem angekündigten Singen, sondern mit subtil rhythmisiertem Körperabklopfen überrascht.

Beschleunigung, Verlangsamung, am Körper nach unten und auf der Nachbarin zurück nach oben. Jetzt Schläge summen, vereinzelt, dann versetzt, dann immer einen mehr, was macht die Nachbarin, den Ton anpassen. Eine Phrase wagen, auf den Rhythmus, gegen den Rhythmus. Jetzt die kleine Gruppe, erst jeder für sich, welche Melodie passt, zusammen, dann Verzierungen, individuell. Die Körperperkussion nicht vergessen!

Im Nu sind die eigenen Säfte entfesselt, Routinen vernebelt, wird spontan angebaut am treibenden Floss. Zum Schluss improvisierte Théâtre musical-Stücke, 10 Minuten Probezeit. Gelächter, Staunen, neue Erinnerungen an künstlerische Wagnisse, ganz körperlich direkt und gefühlt.

Alleine nämlich lässt sich die Kunst der Kulturvermittlung selten stemmen und so finden sie sich immer wieder zusammen, die Kulturvermittelnden, um Entfesselung am eigenen Körper zu erneuern und von Anderen zu lernen. Das Ziel: Ein noch filigraneres, bunteres und beflügelnderes Gewebe der Verführung zu spannen.

So auch bei Ruben Zahra, Soundscapes, Malta, der inspirierend vorführt, wie einfache handgemachte und mediale Mittel sein Theater »PARADE & the Velvet Gentleman» zum Tanzen bringen. Farbtropfen, die sich im Wasser in psychodelische Strudel verschränken, gefilmt und projiziert, füllen die Vision ganz aus, auch ohne kick-klick Farbfilter-Schablonen. Jede Jugendgruppe kann sich das leisten auf der Reise zum Ende des Regenbogens.

Oder die einfachen, flachen Pappfiguren mit Landschafts-Verschnitten im Hintergrund, per Hand rein- und rausgeschoben vor die laufende Kamera. So verwebt man die theatralische Eigeninszenierung mit einer anderen Ebene von frechen Unmöglichkeiten. Geeignet für alle Alter und beinahe kostenlos.

Oder die frei herunterladbare App Stop Motion Studio, kinderleicht zu bedienen, die aus immer wieder verschobenen Objekten oder wilden Szenenwechsel vor dem eigenen Smartphone Road Movies oder flirrende Science-Fiction entstehen lässt. Kulturvermittlung zeitgenössisch, medial und doch Allen zugänglich.

Wer solche Fantasiewerkzeuge und die Mittel der körperlichen Eigenerfahrung (im weitesten Sinne) so anzubieten weiss, dass sie zum Ausdruck des eigenen Lebens ergriffen werden, hat Partizipation vermittelt. Denn keiner von uns befindet sich in einem ursprünglich befreiten Zustand. Wir sind alle sozial und kulturell verbaut und bedürfen offener Türen und Gehwerkzeuge, um sie zu durchschreiten.

Dafür bietet die Kulturvermittlung, nicht zuletzt im Kanton Bern, ein erstaunliches Arsenal, wie sich am RESEO Projekt-Jahrmarkt dann wieder zeigt: ein Kartenspiel mit fantasievoll verblüffenden Anweisungen z.B., um die eigene Stimme zu gewinnen (Das Stimmen-Quartett); eine Körperpraxis, die Nichtbehinderten und Behinderten den gemeinsamen Tanzboden öffnet (BewegGrund); ein Kinderbuch zur verzauberten Entstaubung eines altehrwürdigen Instruments (Staubi und Tim Tock im Musikland); oder eine nimmer endende Abenteuertour des Hör-Spielens und Klangwellen-Experimentierens (Radio Antenne).

Ein Leben teilen

Keiner dieser Versuche ist ohne Risiko, dass zu viel oder zu wenig vorgegeben wird. Dass eine Stimme unterzugehen droht oder eine andere sich verliert. Oder dass Übereifer gemeinsames Sichvortasten versperrt.

Bei der Kulturvermittlung müssen wir alle Angst haben. Sie berührt, was für uns Menschen gleichzeitig am wichtigsten und am schwierigsten ist: Freiheit zu nehmen und Freiheit zu geben. Einfühlsam, abenteuerlich und solidarisch.

Herzlichen Dank an das Konzert Theater Bern-Team von Jan Theiler, Lisa Holzberg und Isabelle Jakob für die nette Unterstützung während der Konferenz und für die Recherchen zu diesem Artikel.
Thank you very much to Ruben Zahra, Soundscapes, for so diligently providing various links and background information when researching for this article.