Die wissenschaftliche Dimension der Kunst

von Christoph Reichenau 15. Januar 2018

Zwei Grindelwaldgletscher gibt es, den oberen und den unteren. Ihre bewegte Entwicklung begann vor 2,6 Millionen Jahren. Bald werden sie – Zeugen der Klimaerwärmung – verschwunden sein. Ein wunderbares Buch erzählt und veranschaulicht die Geschichte.

Man kann dieses grossformatige Buch durchblättern und die Vielzahl und Vielfalt der Bilder und Fotografien bestaunen. Man kann sich in die dichten und doch verständlichen Texte vertiefen und die wissenschaftlichen Grafiken und Tabellen studieren. Man kann dies immer wieder tun und so das im Buch angelegte Mosaik Teil für Teil zusammenfügen und schliesslich erkennen. Der Lohn dieser zugleich spielerischen und anspruchsvollen Beschäftigung: Die Entdeckung einer Kulturgeschichte der Natur. Aber auch – so beängstigend wie aufrüttelnd – die Einsicht, dass uns Künstler und Wissenschafter längst vor Augen führen, was war, was ist und was droht. Nichts ist überraschend am seit langem fortwährenden Rückgang der Gletscher, wenn man die Entwicklung ohne Scheuklappen wahrnimmt. Die Gletscher sind Klimaindikatoren. Das Buch hilft, klarer zu sehen.

Caspar Wolf und andere

Zuerst sind die Bilder. Zeichnungen, Aquarelle, Farbstiche, Ölgemälde seit ungefähr 1640 nehmen breiten Raum ein. Sie sind als historische Bilddokumente wertvoll, zum Beispiel um die Gletscherausdehnung und -schmelzung zu verfolgen. Dafür müssen sie genau datiert sein und den Gletscher sowie dessen Umgebung topografisch korrekt abbilden; zudem muss der Standort des Künstlers bekannt sein. Trifft dies zu, verschmelzen «Naturbeobachtung und ästhetische Inszenierung […] zu einem neuen Landschaftsbild des Hochgebirges». Es ist so realistisch, dass es als Quelle der Forschung dient. Dies schreibt Heinz J. Zumbühl, einer der Autoren, Berner Gletscher- und Klimahistoriker sowie Kenner der Geschichte neuer Städte im 20. und 21. Jahrhundert.

Zumbühl bezieht sich dabei namentlich auf Caspar G. Wolf (1735-1783), den bedeutendsten Alpenmaler des 18. Jahrhunderts. In Paris durch die französische Landschaftsmalerei geprägt, beherzigte er die Empfehlung: «Faites le plus que vous pourrez d’après nature, la nature est le premier de tous les maîtres» (Joseph Vernet). Ab dem Alter von 30 Jahren unternimmt Wolf im Auftrag des Berner Buchdruckers und Verlegers Wagner acht Reisen und malt rund 200 Bilder, darunter 14 Ansichten des unteren Grindelwaldgletschers.

Es sind gewaltige, ebenso erschreckende wie betörende Bilder von überwältigender Farbigkeit, die der reinen Phantasie entsprungen scheinen, wenn man nicht weiss, welch minutiöser Beobachtung sie entsprechen. Zumbühl: «Wolf skizziert […] jedes Detail – zum Beispiel das sich jährlich verändernde Gletschertor – mit der Exaktheit des Forschers, verleiht den aussergewöhnlichen Naturformen aber mit delikater Farbgebung und spannungsvoller Komposition grosse künstlerische Intensität.» Und er zitiert die Kunsthistorikerin Von der Brüggen, in «Wolfs Alpengemälden verschmelzen Naturbeobachtung und ästhetische Inszenierung zu einem neuen Landschaftsbild des Hochgebirges, das ebenso grosse Naturnähe wie perfekte Künstlichkeit für sich beanspruchen kann.»

Galerie der Alpen

Ähnlich muten die Aquarelle und Zeichnungen von Samuel Birmann (1793-1847) an. Sie sind für Zumbühl «so präzise, dass sie qualitativ Fotografien durchaus ebenbürtig sind, des oft grossen Bildwinkels wegen übertreffen sie Letztere sogar». Zahlreiche weitere Künstler – darunter Albrecht Kauw, Johann Ludwig Aberli, Gabriel Lory Vater und Sohn, Joseph Anton Koch und auch William Turner – erstellen nach- und miteinander eine imaginäre Galerie der Alpen und, hier im Vordergrund, der Gletscher.

Ab 1850 ergänzen und ersetzen Fotografen die Künstler (etwa die Gebrüder Bisson, Adolphe Braun und der Thuner Carl Durheim). Zuerst schwarz-weiss, dann farbig übertreffen die Aufnahmen die Bilder an Präzision. Eine Chronologie der Gletscherfotografie des Berner Oberlands und kurze Biografien der wichtigsten Fotografen ermöglichen einen Überblick. Leider fehlt eine entsprechende Einordnung für die Maler; die Angaben zu diesen muss man sich aus den entsprechenden Kapiteln buchstäblich zusammen-lesen.

Wissenschaft und Kunst

Das Besondere an der im Buch gezeigten Kunstgalerie ist nicht nur die stupende künstlerische Qualität und fast wissenschaftliche Präzision der Bilder – besonders ist vor allem, wie Heinz Zumbühl in nuancierter Sprache die Bilder beschreibt und deren Bedeutung für die Wissenschaft der Glaziologie nachspürt und nutzt. Er versteht es, ihre Aura, ja ihre Einzigartigkeit und Würde als eigenständige Kunstwerke zu wahren und sie zugleich als unverzichtbare Grundlage in den Dienst seiner wissenschaftlichen Erkenntnis zu nehmen. So  gibt ein Wissenschafter künstlerischen Darstellungen einen zusätzlichen Wert. Dieser Wert liegt im Wahren: In der getreuen Abbildung des Sichtbaren. Nur weil es diese Bilder gibt, lässt sich  die Geschichte des oberen und des unteren Grindelwaldgletschers in der Zeit vor der Fotografie überhaupt erfassen.

Die Gletscher

Gletscher gibt es seit 2,6 Millionen Jahren. Innert dieses Zeitraums lösten sich lange Kalt- und Warmphasen ab. Die Gletscher waren stets in Bewegung. In Kaltphasen (oder Eiszeiten) stiessen Gletscher von den Alpen weit ins Mittelland vor und schmolzen in warmen Perioden in ihre Ursprungsgebiete zurück. Die letzte grosse Eiszeit begann vor etwa 115‘000 Jahren und war vor etwa 24‘000 Jahren auf ihrem Höhepunkt. Die mittlere Jahrestemperatur lag damals bei -6 Grad Celsius. Der Gletscher endete bei Wangen an der Aare. Über Bern lag eine 400 m dicke Eisdecke, in Grindelwald war sie 900 m hoch.

In der jüngeren Vergangenheit erreichten die Gletscher in der Schweiz ihre grösste Ausdehnung um 1850. Die ganze Gletscherfläche betrug damals rund 1‘700 km2. Die Grindelwaldgletscher stiessen weit in den Talboden vor. Heute bedecken die hiesigen Gletscher etwa 890 km2, die Hälfte von damals. Der untere Gletscher von Grindelwald, der sechstgrösste in der Schweiz, hat 18 km2 Fläche und ein Eisvolumen von 1,4 km3. Der obere weist eine Fläche von 8 km2 auf und ein Volumen von 0,5 km3 Eis.

Vor rund 250 Jahren begann die Beobachtung der Gletscher. 60 Jahre später tauchte der Begriff «Eiszeit» erstmals auf, setzte sich aber nur langsam durch. Denn riesige Gletscher sind in der Bibel nicht erwähnt und für die Vorstellung einer einstigen Eiswüste über dem ganzen Land gab es keine Vergleiche. Seit 1880 werden die Länge der Gletscher und ihre Eismasse in der Schweiz – und später international – mit aufwendigen Verfahren systematisch gemessen. Dank diesem sind die Gletscher heute Indikatoren für den Klimawandel: An ihrer Entwicklung können alle ablesen, was geschieht. Aufgrund der wissenschaftlichen Basis extrapolieren Experten, dass sich der untere Grindelwaldgletscher bis 2050 nochmals halbiert und bis 2100 auf wenige kümmerliche Reste schrumpft, die untereinander nicht verbunden sein werden. Noch stärker schwindet die Eismasse, das heisst die Eisdicke der Gletscher wird sehr viel dünner als heute.

Dies hat, grob gesagt, zwei bedeutsame Auswirkungen, eine klimatische und eine ästhetische. Klimatisch: Mit dem (Ver-)Schwinden der Gletscher geht ihre Ausgleichsfunktion für den Wasserhaushalt verloren. Ästhetisch: Unser Bild der Alpen ist geprägt von Schnee und Eis, es strahlt und strahlt aus. Wenn Moränenschutt und Toteis, grau und stumpf zurück bleiben, ändert sich das Bild radikal. Welche Folgen  dies hat, kann heute niemand sagen. Gletscher bedeuten, gerade in Grindelwald, einerseits Schönheit und touristische Aufmerksamkeit, andererseits Bedrohung und Schrecken. Was sein wird, wenn alles ändert, ist offen.

Lehrreich

Man lernt viel in diesem Buch. Etwa über die Art, die Dicke der Eisschicht von Gletschern zu messen. Oder über Dendrochronologie, die Datierungsmethode von Holz. Oder zum komplizierten Vorgang der Abschmelzung der Gletscher und der dabei zusammen- und entgegenwirkenden Kräfte.

Lernen kann man auch, dass es manchmal nicht nur wissenschaftliche Forscher sind, die Naturphänomene treffend beschreiben, sondern auch Künstler – neben Malern zum Beispiel Schriftsteller. So wird im Buch eine Passage aus Ludwig Hohls Erzählung »Bergfahrt» zitiert, um die Anmutung sogenannter Séracs – das sind Türme aus Gletschereis – zu veranschaulichen: «da sind diese verkrüppelten und hochgereckten Figuren von äusserster Verschiedenartigkeit, da schief gestellt, dort flammenartig ragend, einige so geneigt, dass man sich fragt, wie sie sich noch halten können, andere klotzig und wuchtig, einige in gewissem Abstand stehend, andere, die meisten, nah beisammen, – schauerlich und grotesk zugleich; ein Getümmel von Figuren und Gestalten, wie Matterhörner und Vampirzähne.»

Fazit

Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Es blendet Millionen Jahre zurück, erzählt detailliert die Geschichte der letzten paar Jahrhunderte und blickt weit voraus. Ein Werk zum Schauen und zum Lesen. Rundum lobenswert.

Eine kleine Empfehlung zum Schluss: Der Ortsunkundige liest Namen, etwa Bänisegg, die er nicht ohne weiteres zuordnen kann. Ein – kleiner – Mangel des Buches besteht darin, einiges vorauszusetzen, das nicht alle wissen. Trotz verschiedener Fotografien, Pläne und Karten fällt es schwer, die Topografie leicht und vollständig zu erfassen, die Flurnamen und dergleichen sicher zu verorten. Sollte es zu einer weiteren Auflage kommen, was zu wünschen ist, wäre dieses Manko zu beheben.