Weiter gehen ohne Niederlassung – Erinnerung an Verena Stefan

von Anna Stüssi 8. Januar 2018

Vor gut einem Monat starb Verena Stefan. Anna Stüssi erinnert sich.

« –– dieses gedrungene lebensgefühl manchmal! oft denke ich daran, obwohl das schon so weit entrückt ist, wie es mir auf dem rückflug von New York erging. ich kauerte auf dem boden des flugzeugs, als dieses startete und presste mein gesicht ans fenster. weit unten entschwand die küste eine weiss begrenzte linie. als ich feststellte dass sie derjenigen auf dem globus tatsächlich ähnlich sah, hatte ich sekundenlang eine vorstellung von Amerika und eine ahnung von den strukturen des globus insgesamt. wieder spürte ich die begierde nach der Welt während ich nach Europa zurück flog nach Berlin ohne begründen zu können, was ich dort noch wollte. aber in diesen letzten angestrengten blicken auf die küstenlinie Amerikas hatte ich ein aufflackerndes und wieder verlöschendes gefühl, doch nicht zurück sondern weiter zu gehen ohne niederlassung. Wie selbstverständlich sich der riesige kontinent ins wasser neigte! leicht wirkte das, so leicht und einfach, dass sich die begrenzungslinien meines körpers einige atemzüge lang auflösen konnten.» («Häutungen», S.116f.)

So sehe ich sie: als Ankommende, als Abreisende, am Bahnhof, am Flughafen. Mit geübtem Schritt unterwegs zwischen diversen Heimaten. Fragil, stark. Ihr helles Gesicht taucht auf, die wachen wahrnehmenden Augen, ein kecker Funke darin. Beim Wiedererkennen das Gefühl: ich bin gemeint. Wie es wohl viele der zahlreichen Freundinnen und Freunde verstreut auf der Erde empfunden haben, zu denen sie mit geschickter Hand die Fäden spann und gespannt hielt.

Wenn sie den Mantel aus dem Land der langen Winter ablegte, klaffte ein Spalt weit sein buntes Futter auf: ein verschlungenes Muster, sind es Tiger, Vögel, üppige Blätter? Göttinnenwelt, Tanz und Trommelklang und ein verschwörerisches Lächeln sind nicht weit.

Alltag und luftiger Hintergrund

Doch haben wir nicht eben noch das Rollköfferchen bewundert, wie es brav neben ihr her übers Trottoir glitt? Bei Verena Stefan war beides nahe beieinander: die liebevoll in Augenschein genommenen Alltagsdinge und ein luftiger Hintergrund, wo Dunkel und Licht, Traumbilder und Verstandesklarheit, Angst und Zuversicht ineinander vibrieren. Aus diesem Raum wachsen ihre Texte,  aus ihm tritt sie hervor, auch jetzt nach ihrem Tod.

Vor gut zehn Jahren lernte ich Verena Stefan kennen, Anlass war ein Text von ihr, den wir in der Zeitschrift «Reformatio» publizierten. Bald darauf konnte ich ihr eine Wohnmöglichkeit bei mir anbieten, als sie ein pied-à-terre in Bern suchte. Es war die Zeit der Recherchen für ihr Buch über ihren Grossvater, den Dorfarzt, der wegen illegaler Abtreibungen als alter kranker Mann noch in die Fänge der Justiz geraten war und in die Waldau abgeschoben wurde («Die Befragung der Zeit», 2014).

Jedes Wort muss gedreht und gewendet werden

Dass Göttin Zufall mir spät noch die Freundschaft mit der Autorin von «Häutungen» zuspielte, erschreckte mich fast ein bisschen, war sie doch für mich damals in den 70er Jahren, wie für viele junge Frauen, ein Idol gewesen. Sie hatte, wie ich, das Gymnasium Kirchenfeld besucht, war nach der Matur nach Berlin gezogen und dort eine Pionierin der feministischen Wende und mit «Häutungen» über Nacht berühmt geworden. Die Aufzeichnungen waren  eine Offenbarung. Da wagte eine unauffällige Frau aus einem WG-Zimmer heraus ihr Leiden unter den demütigenden Geschlechtsverhältnissen auszusprechen. Dass heute angesichts der Enthüllungen von «me too» ihre Befunde keineswegs veraltet wirken, macht fassungslos. 

Den patriarchalen Umgangsformen und den kopflastigen Diskursen der Genossen stellte sie mutig ihre eigenen Gefühls-, Körper- und Sinneserfahrungen entgegen. Sie erschloss sich dabei eine persönliche Sprache, die scharfsinnig und angriffig sein konnte, vor allem aber poetisch und sinnlich subtile Empfindungen erkundete, die vorher noch gar nicht im Bewusstsein waren.

Ihre Sicht auf Männer entsprach nur zum Teil meinem moderateren Temperament, deswegen wohl berührte mich »Häutungen» vor allem als Dokument einer Häutung zum Eigen-Sinn und zur Schriftstellerin. Das traf mein eigenes Bedürfnis.

Mit einem Fuss in der Schwebe

Immer wieder kam Verena Stefan über das Meer geflogen – wegen der Sprachheimat ihrer Bücher und ihrer Herkunft. Jahrelang hatte sie im Hin-und Her zwischen der Schweiz und Deutschland und auf Reisen überallhin gelebt. Bis sie in Montréal hängen blieb – der Liebe wegen, wie sie bei Lesungen schlicht zu sagen pflegte.

Wo war ihr Ort? Hier und dort. Im Dazwischen. Auf dem Hag. Als «eine Zaunreiterin, die zwischen dieser Welt und jener hin- und herhuschen kann», bekennt sie sich im Büchlein «Wortgetreu ich träume» (nach langer Schreibpause 1987 erschienen), – in einer Zeit, als Frauen die weise Hexe in sich entdeckten.

«Anyway, any way, on the road, unterwegs», so geschehe ihr das Leben, sagt sie andernorts. Es drängte sie immer wieder, Schritte ins Ungewisse zu tun, wo Zusammenstoss mit Fremdem passiert und nichts anderes übrig bleibt, als sich im Unbekannten  zurechtzufinden, Verständigung zu wagen,  Spuren zu lesen, Mischungen zuzulassen oder gegebenenfalls sich zu bewahren, zu retten – in und mit der Sprache, der Kunst.

Fremdsein, Aufbruch und Anpassung waren in Verena Stefans Herkunft angelegt. Der Vater, ein Deutscher, die Mutter eine Schweizerin, bei Kriegsende mit zwei kleinen Kindern aus Mähren über Prag in die Schweiz flüchtend, aufs Dorf, ins fremdgewordene Elternhaus. Schmerz und Bereicherung solcher Erfahrungen bilden das Substrat von Verenas Büchern.

Buchstabieren ein Leben lang

Für mich besonders eindrücklich liest sich das in «Fremdschläfer» aus dem Jahr 2007. Auf 150 Seiten folgen wir der Immigrantin, wie sie sich in Kanada mit der ungewohnten Umgebung und Gesellschaft auseinandersetzt,  sich mit zwei vorerst fremden Sprachen und einer neuen Liebe anfreundet, um dann, kaum zeichnet sich Zugehörigkeit ab, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass der Körper eigenmächtig den Fremdkörper Krebs produziert und alles im Entstehen Begriffene wieder einstürzt. «Hört das Buchstabieren ein Leben lang nicht auf? Ja», muss sich die Erzählerin eingestehen. Mit diesem tapferen, wankenden Vertrauen geht sie weiter im Text, im Lebens- und im Sprachtext, unsicheren Schritts, begleitet vom unheimlichen Compagnon Tod, der den Faden abschneiden will, aber auch beschützt von der heilenden Traumkraft, die nicht müde wird, die Erschöpfte mit unerschöpflichen Lebensbildern und Sprachfunden zu füttern und zu locken. Immer wieder erfährt sie Momente erfüllter zeitloser Gegenwart, an Seen und Flüssen, in Wiesen und Wäldern.

Mit diesen Bildern erlebe ich die Natur Kanadas intensiver als wenn ich sie mit meinen Augen sehen würde, rede ich mir ein. Dass es schmerzt, den Besuch bei ihr zu lange aufgeschoben zu haben, sei nicht verschwiegen.

Nun taucht sie wieder auf, ist sehr präsent, mit ihrer Stimme, und ja, auch in ihrer mütterlich praktischen Art, wenn sie geschickter als ich in der Küchenschürze Hand anlegte und einen Fisch würzte, und durchs Fenster zu den farbigen Abendwolken das magische Wort «magenta» sprach.

Beim Blättern im «Fremdschläfer» fällt mir einer jener Sprachfunde zu, wie sie Verena Stefan aufzustöbern verstand. Zwei banale Redewendungen rückt sie zusammen – fall into pieces, fall into place – , und schon blitzt ein jähes Glück auf,  Not springt über in Rettung.

Leb wohl, liebe Verena. Du hast dich in einem Rundmail mit dem Blick auf die «langsam verglühenden Ahornbäume, die nun ihre Blätter lassen»  verabschiedet. Wir indessen leben gut mit all dem, was du als «Fremdschläferin» und Zaunreiterin beim Aufwachen im «Spalt am Horizont» wahrgenommen und ins Licht der uns bleibenden Text übersetzt hast.

«Noch im Schlaf habe ich deutlich meine offene Wohnungstür gesehen, dahinter das üppige, lichtdurchflutete Grün eines Ahornbaumes und einen Schneeball, der sachte über die Türschwelle und dann den Flur entlang rollte. Eine Stimme sagte: A snowball rolled over the threshold, and its sound woke me up. Ich erwachte mit einem Schlag. Vor dem Fenster bewegten sich grüne Blätter im Wind. Ich drehte den Klang des Satzes im Mund hin und her und konnte ihn nicht übersetzen, weil mir da, an jenem Morgen, sound besser gefallen hat als Ton. Ein Schneeball rollte über die Schwelle, und sein Ton weckte mich auf, sagte ich vor mich hin, Oder war es sein Laut, sein Geräusch oder sein Klang? Ich weiss es nicht. Mit einem vollständigen fremden Satz im Ohr stand ich auf. Er war mir nicht fremd, er kam aus dem Schlaf.»

Am 29. November 2017 ist Verena Stefan kurz nach ihrem 70. Geburtstag in Montréal gestorben.