Sei du selbst und es ist ok!

von Christoph Reichenau 15. November 2017

Seit 40 Jahren machen in Basel junge Leute mit grossem Erfolg ihr Theater. «Forever Young» heisst das schöne und spannende Buch zum Jubiläum. Was am Rhein gelang, muss uns an der Aare interessieren, weil es auch hier in Bern möglich ist. Und nötig.

Das Buch ist grossformatig, keines, in dem man im Bett blättert. Ein Blick auf den Umschlag macht neugierig: «Forever Young – Junges Theater zwischen Traum und Revolte». Öffnet man das Buch, bleibt man hängen in den 200 durchwegs reich bebilderten Seiten, schaut und liest und staunt. «Forever Young» tönt nach James Dean oder, weiter in der Vergangenheit, nach Büchner und Kleist. Alfred Schlienger (Dozent und Kritiker in Basel) erzählt die glänzende Erfolgsgeschichte des Jungen Theaters Basel (jtb), das zuerst Basler Jugendtheater hiess, mit eigenen Erinnerungen, Zeugnissen der Akteure, und – dies weckt das Vergangene zum Leben – mit vielen Szenen-Fotos von den meisten Aufführungen seit Anbeginn.

Kurse und Produktionen

Das jtb, das sind Theaterkurse für alle interessierten Jungen von 14-24 Jahren mit 60 bis 80 Teilnehmenden in bis zu vier Kursen. Jeder Kurs präsentiert seine Arbeit vor Publikum, aber ohne Medien. Jährlich bringt das jtb zudem mindestens zwei Eigenproduktionen mit professionellen Regisseur/innen heraus: 8 Wochen Probezeit, 8 Stunden Arbeit pro Tag. Wer als Spieler/in noch zur Schule geht, muss sich freistellen lassen. Durchschnittlich 6’000 bis 8’000 Personen besuchen die Aufführungen auf dem Areal der Kaserne Basel. Und viele mehr erleben das jtb bei Gastspielen in der Deutschschweiz (auch im Schlachthaus) und im Ausland (Wiener Festwochen, Ruhr Triennale, Holland Festival, Gorki Theater Berlin usw.).

Wie sich das jtb entwickelt hat und was es geworden ist, wird in Gesprächen mit Sandro Lunin (dem Leiter des Zürcher Theaterspektakels und künftigen Chef der Kaserne), Sebastian Nübling (Regisseur), Heidi Fischer (frühere jtb-Leiterin), Suna Gürler (früher Spielerin, heute Regisseurin und Theaterpädagogin, Anna Jungen (Lehrerin und Radiojournalistin) sowie dem langjährigen Leiter Uwe Heinrich eingekreist und nachvollzogen. Weitere Texte vertiefen Aspekte der Theaterarbeit und der Bedeutung des Theaters in der Gesellschaft. Bemerkenswert der Essay des britischen Dramatikers Simon Stephens über Gewalt im Theater für Jugendliche.

Es stehen viele gescheite Sätze in diesem vielschichtigen Buch. Immer wieder streiche ich einen an. Etwa: «Im jtb habe ich gelernt: Sei du selbst und es ist ok!» (Julian Schneider). «Mit Aufmerksamkeit, Spiellust und Energie kamen wir. Bekommen habe ich: Spass, geschärfte Sinne, Gelassenheit und Zuversicht, dass es gut gehen wird» (Anna Mücke). Oder: «Ich lernte mich selber besser kennen, entwickelte über das Spielen ein Selbstbewusstsein, gerade auch dadurch, dass ich mich mit meinen Ängsten konfrontierte» (Suna Gürler). Anna Jungen empfand das jtb als «ersten Ort, wo ich nicht sanktioniert wurde».

Was ist Junges Theater?

«Junges Theater», sagt Anna Jungen, «ist das Gegenteil von Schule, in jeder Hinsicht. (…) Junges Theater soll ausserhalb aller Zwänge und Erwartungen stehen. (…) Es soll ein Ort sein ohne Klischees und somit ein Ort, an dem ernsthaft nachgedacht wird. Dann ist es auch ein emanzipatorischer Ort». Für den Soziologen und Kulturtheoretiker Dirk Baecker ist Junges Theater «eine Übung in Sachen Gesellschaft. Was auch immer man hier spielt, nimmt man mit ins Leben».

Uwe Heinrich, Leiter jtb seit 2000, erklärt den Unterschied zur Jugendabteilung des Theaters Basel so: «Wir fischen in verschiedenen Teichen. Die Jugendclubs am Theater Basel sind literarischer orientiert, arbeiten sich mehr an kulturellen Grössen ab. Wir sind thematischer und zeitgenössischer ausgerichtet. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Arbeit mit Jugendlichen ganz im Zentrum steht. Bei uns gibt es nichts Wichtigeres. (…) Jedes Konzept würde ich sofort umschmeissen für das, was von den Jugendlichen kommt». Und: «Ich suche nach Dingen, die man originär nur am jtb machen kann».

Ein Frei-Raum

Das jtb ist ein geistiger Freiraum. Es ist aber auch ein realer Ort. «Du warst für mich wie ein zweites Daheim», schreibt Alma Handschin. Der Ort ist wichtig, «weil Theater ein Heimatgefühl braucht. Es braucht einen Ort, wo man hingehen kann, der Schutz und Geborgenheit bietet, wo man seine Freunde trifft» (Heidi Fischer, Leiterin jtb 1990-2000). Für Alfred Schlienger ist die Eigenständigkeit des Theaters der «eigentliche Kern seiner Identität: Als vierte, fünfte oder sechste Sparte innerhalb eines grossen Hauses könnte es nie dieselbe genuine Kraft entfalten».

Fragen

Einiges wüsste ich trotz manchmal ausufernder Darstellung gern genauer. Zum Beispiel schreibt Inés Mateos – Expertin für Bildungs- und Diversitätsfragen – über Vielfalt im Theater: «Der Zugang zur Theaterwelt ist für viele Jugendliche eine Chance, aber er ist keine Selbstverständlichkeit. (…) Der Zugang für die ganze Vielfalt von jungen Menschen zur Bühne des jtb ist deshalb auch ein Weg, über die Spieler, deren Erfahrungswelten und mit experimentellen Darstellungsformen ein Publikum zu erreichen, das nicht von Haus aus theateraffin unterwegs ist oder dessen Geschichten selten repräsentativen Gehalt und öffentliche Gestalt erlangen. Theater, wie es das jtb bietet, ist deshalb ein wichtiges Mittel gegen den Ausschluss und für die Teilhabe am kulturellen Leben vieler.» Schöne und richtige Sätze, die vermuten lassen, das jtb spiele in der angemahnten Richtung eine bedeutende Rolle. Aber wie? Kommen die Jungen nicht-theateraffiner Herkunft tatsächlich – als Spielende und Zuschauende? Welchen Anteil machen sie aus? Was wird unternommen, um sie zu erreichen? Und weiter: Falls es gelang und gelingt, hat das jtb dadurch und darin Einfluss auf die andern Kulturorte Basels?

Frag-würdig ist auch, wie repräsentativ die im jtb engagierten Menschen für «die Jugend» in Basel sind. Anna Jungen fragt: «Kommen nur die coolen, interessanten Leute zum jtb, oder kommen ganz normale Menschen und zeigen hier ihre interessanten Seiten?» Ihre Antwort: «Ich glaube, es ist das Zweite». Und Inés Mateos findet: «Gerade im Vergleich zu den grossen Theaterhäusern, die oft noch ein sehr homogenes Bild von Gesellschaft zeigen, ist das jtb (…) bezüglich Diversität gut aufgestellt».

Dennoch: Welchen Teil der Gesellschaft die im jtb mitwirkenden jungen Menschen abbilden, wird durch keine konkreten Angaben belegt. Doch letztlich schmälert dies die Bedeutung des Buchs als Dokumentation und als Mutmacher keineswegs.

Mutmacher

Am jtb, das wichtige nationale und internationale Preise gewonnen hat, arbeiten vier Personen. Sie teilen sich 270 Stellenprozente (100% Leitung, 60% Sekretariat und Koordination, 60% plus 50% Technik) mit Einheitslohn für alle Funktionen. Mit 585’000 Franken Gesamtumsatz, davon 435’000 Subventionen (u.a. 85’000 für den Raum), erreicht das jtb im Durchschnitt jährlich 6’000 bis 8’000 Zuschauer/innen und erzielt einen Eigenfinanzierungsgrad von grandiosen 26 bis 30 Prozent. Die Eintrittspreise betragen 5 Franken pro Person bei Schulklassen aus beiden Basel, 15 Franken für Jugendliche, Lehrlinge und Studierende sowie 25 Franken für Erwachsene. Die Auslastung liegt bei 87 Prozent: Fast die Hälfte Schulklassen, gesamthaft etwa 2/3 Jugendliche und 1/3 Erwachsene. Eine Subvention von ca. 70 Franken pro Platz sucht – relativ gesehen – ihresgleichen. Und da so viele Schulklassen hingehen – übrigens in Abendvorstellungen mit «gemischtem Publikum» – erreicht das jtb in seinem Publikum eine beachtliche Diversität.

Für gerade etwa die Kosten einer Opernproduktion ermöglichen die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft etwas Einzigartiges. Einzigartig müsste es nicht bleiben. Es stünde der Stadt, der Burgergemeinde und dem Kanton Bern gut an, von Basel zu lernen. Die Blaupause liegt auf dem Tisch. Erfolgreiche 40 Jahre machen Mut.

Ein Schatten

Auf den Glanz des Jubiläumsbands fällt ein kleiner Schatten. Die Bilder sind im Buch extrem wichtig. Vor allem dank ihnen kann auch ein Aussenstehender wie ich die Atmosphäre auf der Bühne nachempfinden. Doch leider fehlt in den Bildlegenden der Hinweis auf die Fotografen und Fotografinnen. Im ganzen Buch steht kein Wort zu ihrer Arbeit. Lediglich im Copyright-Nachweis erscheinen die Namen mit Zuweisung zu den Fotos. Dies wird der Bedeutung der prägnanten Aufnahmen, die mehr als die Hälfte des Platzes einnehmen, nicht gerecht. Schade.