Kunst-Stafette #66: Julia Haenni

von Magdalena Schindler 6. Dezember 2016

Mit transform Versuchsanordnung 6 plant die Theatermacherin Julia Haenni zusammen mit Franz Krähenbühl und einem grossen Team ein Kunstprojekt in Bern-Holligen, das in engem Austausch mit dem Ort und den AnwohnerInnen entsteht. Erster Event ist am 16./17. Dezember ein Eröffnungsfest auf dem Loryplatz.

Was hat dich zu dieser Arbeit veranlasst?

Julia Haenni:

Transform als transdisziplinäres Kunstprojekt, welches Kunstschaffende an einen Ort einlädt, wo normalerweise keine Kunst stattfindet und sie künstlerische Reaktionen vor Ort und aus dem Ort heraus generieren lässt, gibts ja schon einige Jahre. Seit der letzten Ausgabe versuchen wir nun aber, diese Räume für Kunst weiterzudenken und eben im und mit dem öffentlichen Raum zu arbeiten, der auch immer ein sozialer Raum mit interagierenden Menschen ist. Wie in der letzten Versuchsanordnung sind wir auch für die kommende wieder im sogenannt marginalisierten und von der Stadtentwicklung anvisierten Quartier Bern-Holligen unterwegs. Diesmal versuchen wir gemeinsam mit den Kunstschaffenden und der Bevölkerung vor Ort, die Möglichkeiten von Kunst in diesem spezifischen öffentlichen Raum des Quartiers zu befragen.

Kunst im öffentlichen Raum wird ja oft eingesetzt, um gesellschaftliche Prozesse vor Ort reflektieren zu lassen, Stadtentwicklungs-Ideen zu unterstützen oder soziale Spannungen abzufedern. Kunst wird als Katalysator verstanden, als Möglichkeit, die vorherrschenden Dinge vielleicht noch einmal durch eine andere Brille zu betrachten und so längerfristig einen Beitrag zu gesellschaftlichen Vorgängen vor Ort zu leisten. Das ist wunderbar und ich glaube, dass das Kunst kann und soll. Nur wird diese häufig an der anzuregenden Öffentlichkeit vorbeigeplant. Die Bevölkerung vor Ort wird selten in den Entstehungsprozess miteinbezogen und hat so kein Verhältnis zu den Werken. Und im schlimmsten Fall haben diese damit gar keine Relevanz für ebendiese Öffentlichkeit, für die sie produziert werden.

Wir glauben: Ein Grundkonzept wie das von transform bietet sich da an. Ein Konzept nämlich, welches Kunst vor Ort, in Interaktion mit dem Ort entstehen lässt. Für die Versuchsanordnung 6 kommt aber noch ein weiterer zentraler Aspekt zum Setting dazu: eine Quartierjury, die am Prozess beteiligt ist. Diese Quartierjury besteht aus allen QuartierbewohnerInnen, die mitreden möchten, welche Kunst in, um, mit für Bern-Holligen sinnvoll ist und was eben sinnvoll in diesem Fall überhaupt hiesse. Diese Jury suchen wir im Moment zusammen und versuchen hierfür, in Kontakt mit möglichst vielen Vereinen, Institutionen, sozialen Gruppen zu kommen. So dass möglichst viele QuartierbewohnerInnen von dieser Möglichkeit erfahren und mitmachen können.

Im April lädt transform dann 10 Kunstschaffende aus allen Sparten ein, zwei Wochen in Holligen zu verbringen und in der Folge Projektideen für Kunst im Quartier zu erarbeiten und der Jury vorzulegen. Diese wählt dann aus, welches Projekt oder welche Projekte in ihrem Quartier realisiert werden sollen.

Mit diesem Ping-Pong zwischen Quartier und Kunstschaffenden erhoffen wir uns ein Kunstprojekt, welches weder von oben herab dem Quartier vorgesetzt wird, noch einfach umsetzt, was das Quartier wünscht. Sondern eines, welches aus der Zusammenarbeit aller am Prozess Beteiligten und Betroffenen entsteht. 

Welchen Raum brauchst du für deine Kunst?

Als Theatermacherin brauche ich die Öffentlichkeit für meine Texte, meine Performances. Theater ist ja per se ein öffentlicher Ort, konstituiert sich erst durch die anwesende Öffentlichkeit. Es ist immer ein Gespräch, ein Kommunikationsangebot, worauf Reaktionen kommen. Mich interessiert die Frage immer sehr, wer diese Öffentlichkeit ist, die da kommt. Oder diese Teil- Öffentlichkeit. Für wen spiele ich, schreibe ich? An wen wende ich mich und warum gerade an die? Wer sind die? Wie möchte ich mich mit dieser spezifischen Öffentlichkeit interagieren?

Je nachdem brauche ich dann andere Kommunikationsstrategien oder andere Angebote und andere Räume. Ich muss vielleicht aus dem Theater, aus dem Museum raus. Weil da nicht die Öffentlichkeit hinkommt, mit der ich interagieren will. Ich muss vielleicht eine andere Sprache benutzen, andere Codes, einen anderen Sprech-Raum etablieren. Ich spreche gerne von Einladungen. Ich bin ja als Künstlerin Gastgeberin für bestimmte Gäste, mit denen ich über etwas Bestimmtes sprechen möchte. Es ist wie bei einem Dinner eigentlich. Ich bestimme die Regeln des Abends und wozu ich einlade. Aber je nachdem, wen ich einlade, gehe ich das anders an. Das Bild gefällt mir sehr. Und das Tolle in der Kunst ist ja: Ich kann immer wieder neue und andere Räume und Spielregeln erproben, es gibt da ja keine Grenzen und nichts, was nicht probiert werden kann.

Das versuchen wir jetzt im Rahmen von transform. Wir sagen okay, Kunst im öffentlichen Raum soll aber auch wirklich etwas mit dieser Öffentlichkeit zu tu haben, konkret für sie sein, in Interaktion mit ihr treten. Und die ist einem Quartier wie Bern-Holligen extrem divers und heterogen. Also müssen wir uns überlegen, wie können wir mit den verschiedensten sozialen Gruppen ins Gespräch kommen. Das ist ein Prozess des Ausprobierens. Ich brauche also ein Nachdenken über den Sprech-Raum, den die jeweilige künstlerische Aktion öffnen soll. Und ich brauche Wagnisse, das Drauflos-Ausprobieren und die Möglichkeit zu scheitern, auf dass sich Fehler oder Ungereimtheiten zeigen. Auf dass diese im nächsten Schritt weitergedacht werden können! Deshalb gefällt mir das transform-Grundkonzept auch so gut: Wir schauen, was passiert, was klappt und was nicht. Und so ist jede Versuchsanordnung Ausgangspunkt für die Planung der nächsten. Transform transformiert sich ständig weiter und probiert und probiert.

Sind gesellschaftliche Fragen Thema deiner Kunst?

Unbedingt. Aber ich weiss auch gar nicht, wie das anders möglich ist. Ich bin ja ein gesellschaftliches Wesen und bin durch meine Gesellschaft in meinem Denken, Handeln und Sprechen geprägt. Sich dessen bewusst zu sein, finde ich wichtig. Und damit mein ich nicht, dass man ständig darüber reden muss. Aber es ist die Grundlage für die Beschäftigung mit was auch immer.

Im Rahmen der 6. Ausgabe von transform ist die Frage besonders zentral: Gemeinsam mit dem Quartier wird ja entschieden, welches Kunstprojekt dann vor Ort realisiert wird. Wie relevant und offensichtlich dabei gesellschaftliche Fragen verhandelt werden müssen oder sollen und welche das in diesem Fall sind, wird im Austausch mit der Quartierjury herauszufinden sein. Da gibt es bestimmt verschiedene Meinungen dazu und es wird sicher ein Thema werden, was von Kunst erwartet wird, was sie soll, kann, muss, darf. Das Spannende ist, dies eben nicht nur mit Leuten aus der Kunstszene zu besprechen, sondern Kunstschaffende und das Quartier an einen Tisch zu setzen, damit sich im Idealfall auf beiden Seiten Horizonte erweitern und wir der Frage nach der öffentlichen, gesellschaftlichen Funktion von Kunst vielleicht ein bisschen näher kommen.

Suchst du die Öffentlichkeit?

Als Theatermacherin suche ich immer die Öffentlichkeit. Theater spielen, schreiben, Kunst überhaupt ist meiner Meinung nach in erster Linie dazu da, mit einem Publikum, mit anderen Menschen über etwas ins Gespräch zu kommen. Also Gedanken zu teilen, Fragen zu stellen mit dem Ziel, diese aus sich selbst herauszuholen und in Austausch mit anderen vielleicht zu klären. Oder zumindest besser zu verstehen, andere Aspekte davon zu erblicken. Und das heisst auch: Sich für andere Sichtweisen zu öffnen und zu sehen, dass derer viele sind. Das klingt vielleicht ein bisschen kitschig; aber in diesem Sinne verstehe ich Kunst durchaus als Mittel der demokratischen Verständigung, des gemeinsamen freien Denkens und Diskutierens – und als einen der letzten Räume, wo dies möglich ist. Kunst sollte sich dessen bewusst sein und aktiv solche (zeitweiligen) Räume schaffen und öffnen. Das ist das einzige was Kunst soll. Sonst darf sie vor allem. 

Wo siehst du Potential zur Nutzung des öffentlichen Raums?

Der öffentliche Raum ermöglicht es allen, an einem künstlerischen Prozess teilzunehmen. Der öffentliche Raum lässt sich nicht kontrollieren! Ein öffentliches Publikum ist immer divers und nie im Voraus abschätzbar. Es kann niemand ein- oder ausgeladen werden, es gibt keine Schranken durch Eintrittspreise oder Ähnliches. Dadurch kann immer eine breite Öffentlichkeit angesprochen und aus den eingefleischten Zirkeln hinausgetreten werden. Kunst im öffentlichen Raum ist eine breite Einladung. Darum geht es ja , um die Frage: Wen lade ich ein? Und im Sinne eines Kunstverständnisses, welches Kunst als öffentlichen Diskurs-Raum versteht, kann eine breite Einladung ja nur positiv sein. Sie hilft vielleicht, das Bild von Kunst und vor allem von Theater etwas zu entstauben und zu sagen: Hey, künstlerisches Spiel, künstlerisches Denken und Betrachten kann den Alltag bereichern, von Normen befreien, um Realitäten vervielfachen, ihn auch mal aushebeln! 

Aber es ist natürlich nicht nur einfach. Ich glaube, man muss sehr offen und risikobereit und uneitel dafür sein und seine eigenen Vorstellungen gerne erschüttern lassen. Nur so kann ein wirklicher Dialog stattfinden – und das wollen wir ja – oder hab ich da was falsch verstanden? Sehr viele Projekte tun dies im Moment, gerade auch in Bern und das macht Freude auf die Zukunft!

Welches ist dein persönlicher Hotspot in Bern?

Im Moment aus gegebenem Anlass der Loryplatz. Er ist so wundebar missraten mit diesem komischen Dreieck, halb Kiesplatz, halb Strasse, halb Veloparkplatz. Und gleichzeitig habe ich ihn schon ganz lieb gewonnen. Früher bin ich da einfach nur immer möglichst schnell durchgefahren. Durch transform und die vielen Kontakte im Quartier schau ich den jetzt ganz anders an. Er hat sich für mich sozusagen transformiert. Und es gibt jetzt neuerdings immerhin schon zwei Bänkli! Und bald hoffentlich noch mehr… Zum Beispiel am 16. (ab 16 Uhr) und 17. Dezember: Dann findet das transform-Eröffnungsfest auf dem Loryplatz statt, mit Lesungen von Texten und Geschichten aus dem Quartier (u.a. Esther Becker), Konzerten (u.a.Nick Porsche), einer zweitägigen künstlerischen Aktion vor Ort von Lorenzo Salafia, Führungen durchs Quartier und das Schloss Holligen, Punsch, Knoblibrot und einer grossen Stühle- Aktion unter dem Motto «Loryplatz beSitzen!».