Familienmensch und Branchenstratege

von Christoph Reichenau 15. Januar 2016

Die Berner Journalistin Bettina Hahnloser erzählt im Buch «Der Uhrenpatron» die Geschichte ihres Grossvaters, des Unternehmers Rudolf Schild-Comtesse (1900-1978).

Die Geschichte ist einfach und kompliziert zugleich. Einfach ist die Geschichte des erfolgreichen Uhrenunternehmers Rudolf Schild-Comtesse in Grenchen, der während eines halben Jahrhunderts (von 1925 bis 1975) die Geschicke der Firmen Eterna (Fertiguhren) und Eta (Rohwerke) leitete und die Geschicke der gesamten schweizerischen Uhrenindustrie mitgestaltete.

Kompliziert ist die davon untrennbare Entwicklung der hiesigen Uhrenindustrie – einer technologisch, beschäftigungsmässig und für das Selbstverständnis der Schweiz wichtigen Wirtschaftsbranche, die gegenüber internationaler Konkurrenz in stetem Auf und Ab zu bestehen hatte und hat. Zu ihrem Schutz suchte und fand die Uhrenindustrie seit den 1920er Jahren mit den Banken und ab der Zwischenkriegszeit unter Beteiligung der Eidgenossenschaft Mittel und Regelungen, die in der Schweizer Industrie einzigartig waren – allenfalls mit jenen für die Landwirtschaft entfernt vergleichbar.

Der Patron

Rudolf Schild-Comtesse, Jurist, Enkel des Gründers und Neffe des Inhabers der Uhrenfirmen Eterna und Eta in Grenchen, trat als 25-jähriger in den Betrieb ein und übernahm 1932 die alleinige Leitung. Vorausschauend, strategisch denkend, fordernd, doch mit sozialer Ader im Umgang mit den Mitarbeitenden, brachte der stets korrekt gekleidete «Junker»  mit höflicher Art und unerbittlicher Verfolgung der Firmenangelegenheiten wie auch der Interessen der gesamten Uhrenbranche alles mit, was es brauchte, um in diesem Wirtschaftszweig unentbehrlich zu werden. Er wirkte denn auch als Firmenleiter und Fachmann in allen Gremien mit, die die unübersichtliche Uhren-Landschaft in der Schweiz gliederten, leiteten, steuerten.

«Rudolf», wie Bettina Hahnloser im Buch ihren Grossvater durchgehend nennt, war auch ein Familienmensch: warmherzig, häuslich, sorgsam. Mit seiner Frau Madeleine hatte er vier Kinder. Und er widmete sich öffentlichen Fragen als Gemeinderat in Grenchen, Präsident der Elektrizitätskommission und Mitgründer und langjähriger Präsident der Spitals Grenchen.

Das Uhrenstatut

Das «Uhrenstatut», die regulatorische Grundlage der special relationship zwischen Bundesstaat, Banken und «der» Uhrenindustrie, die ihrerseits aus vielen hundert kleinen, mittleren und einer Handvoll grosser Firmen bestand, erscheint als extremes Beispiel einer Kreuzung zwischen mittelalterlicher Zunftordnung, Korporationsregime und (fast) Staatsmonopolkapitalismus. Es bezweckte, den Preiszerfall in der Uhrenindustrie einzudämmen. Es ging der Chablonnage an den Kragen (dem Verkauf von Uhrenbestandteilen ins Ausland, um sie dort unter Umgehung der auf Fertiguhren erhobenen Schutzzölle erst zusammenzusetzen).

Die Eröffnung und Vergrösserung von Fabriken, die Erhöhung der Belegschaft und wesentliche Änderungen der Produktionsfelder bewilligte das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement. 1937 wurden die Arbeitsbedingungen in der Branche verbindlich erklärt; die Gewerkschaften verzichteten auf Streiks, die Arbeitgeber auf Aussperrung  («Friedensabkommen»). Später mussten Exporte eine technische Qualitätskontrolle durchlaufen. Die Uhrenbranche organisierte sich in drei grossen Holdings für Fertiguhren, Rohwerke und Bestandteile (Federn, Spiralen, Zubehör). Die Hersteller von Fertiguhren durften nur schweizerische Rohwerke und Bestandteile zu festgelegten Preisen verwenden. Eine Treuhandstelle überwachte alles; ein Schiedsgericht entschied verbindlich. 

Aus zeitlichem Abstand betrachtet, ist das in seiner Reinform von 1930 bis 1971 geltende Uhrenstatut ein Regelwerk, das in der liberalen Gesellschaft, die den freien Markt liebt, etwa so fremd wirkt wie heute die implizite Staatsgarantie für Unternehmungen, die soi disant «too big to fail» sind.

Das Buch

Bettina Hahnloser hat, unterstützt von ihrem Onkel Adolf Richard Schild, am Beispiel ihres Grossvaters eine spannende industrie-politische Entwicklungsgeschichte der schweizerischen Uhrenindustrie geschrieben. Der laufende Text, schon gespickt mit vielen Details zum uhrentechnischen Fortschritt, wird ergänzt durch eine Chronologie der Ereignisse von Rudolf Schilds Abgang 1975 bis 2015, durch Kurzbiografien wesentlicher Akteure (wobei etwa Gérard Bauer oder Peter Gross leider fehlen), durch ein Organigramm der Uhrenindustrie (das deren Kompliziertheit drastisch vor Augen führt) und – sehr hilfreich – ein Kompendium uhrenspezifischer Begriffe. Wer will, findet viel Stoff zur Vertiefung in eine komplizierte Geschichte, in der mit dem Auftauchen des Beraters und späteren Gründers der Swatch Group, Nicolas Hayek, in den 1980er Jahren ein neues Kapitel aufgeschlagen worden ist.

Der Laie, dem das Buch einiges abverlangt, hätte gern auf manche Einzelheit verzichtet und dafür noch mehr erfahren über den Menschen Rudolf Schild-Comtesse: seine Vorlieben, seine Lektüre, seine politischen Einschätzungen über die Uhrenfrage hinaus. Dies alles bleibt merkwürdig blass, und das ist schade.