Und sie tanzen trotzdem

von Christoph Reichenau 1. September 2015

Traditionell präsentieren das Kino in der Reitschule und der Trägerverein Grosse Halle im September das Festival «Film & Musik». Dieses Jahr kommt mit zwei Choreografien von Karin Hermes noch Tanz hinzu – besonderer Tanz.

«Beyond» bedeutet jenseits, über – hinaus, ausserhalb. «Beyond» heisst auch die Choreo-grafie von Karin Hermes, die 16 Jugendliche zur Live-Musik von Ali Salvioni in der Grossen Halle tanzen. Ein abstraktes Stück, frei zur Interpretation. Die Mitwirkenden des jungen En-sembles von Hermesdance tanzen meist seit langem, oft ab dem achten Altersjahr; sie wirk-ten mit in der Gruppe «Bühnentiger». Einige der Tanzenden waren 2014 bei «Carmina bura-na» dabei.

Trotz Absage der Stadt Bern

«J’ai dit Oui, mais c’est Non» ist das zweite Tanzstück. Im Grunde dürfte es dieses gar nicht geben. Es ist, was von einem ursprünglich viel grösser konzipierten Projekt machbar blieb.

Das eigentliche Projekt hatte den Ursprung 2013 im Kunstmuseum von Pully bei Lausanne. Die aus Bolivien stammende, als Kind nach Genf geflohene Künstlerin Carmen Perrin stellte dort die Plastik «La distance juste» aus, ein Werk aus Eierschalen gespickt mit Tapeziernä-geln, die Spitzen gegen aussen gerichtet – wehrhaft und fragil in einem. Diese Kugeln, die Seeigeln gleichen, waren nahe beisammen und hielten doch Abstand.

Zum Titel inspirierte sie der französische Ethnologe Claude Lévy-Strauss; er erzählt die my-thische Geschichte der Piroge, die zwischen der Sonne und dem Mond navigiert und zwi-schen Verbrennen und Verschimmeln immer neu die «distance juste» sucht, die Balance von Nähe und Distanz als Grundbeziehung unter Menschen. Als Grundform des Tanzes.

Andere sind eingesprungen

Karin Hermes ist Tänzerin, Choreografin, Spezialistin für Tanzwerke des 20. Jahrhunderts (Revivals etwa von Kurt Jooss, Anna Sokolow, Dominique Bagouet), wird regelmässig einge-laden vom Centre National de la Danse in Paris (im November 2015 für «Scènes de Gestes») sowie von den französischen Centres Choréographiques Nationales. Und sie ist Gastdozentin am Conservatoire National supérieur de la musique et de la danse Paris.

Karin Hermes entwickelte ausgehend von Carmen Perrins Plastik und Thema ein Tanzstück für die Grosse Halle. Die Stadt Bern lehnte im Frühjahr 2015 eine finanzielle Unterstützung ab. Grund unbekannt. Eigentlich wäre die Geschichte damit zu Ende. Doch Hermes hatte sich zu stark eingelassen auf das Thema und auf den Ort. Dank Beiträgen der Burgergemeinde Bern, des Kantons Bern und der Migros machte sie weiter. Mit einem minimalen Budget stemmt sie mit der Musikerin Katryn Hasler und den Musikern Nic Dauwalder sowie Ali Sal-vioni die beiden Stücke.

«J’ai dit Oui, mais c’est Non», für fünf bis sieben Tänzerinnen und Tänzer gedacht, muss mit zwei auskommen. Es ist eine kollektive Choreografie, beeinflusst von David Rollands Produk-tion «Les lecteurs». Die Tänzer machen eine Einführung, dann entwickelt sich das Stück un-ter Mitwirkung des Publikums zu einer dreiteiligen Struktur. Allerdings: Niemand muss müs-sen. Wer nicht mittun will, kann Zuschauer bleiben.

Musik zu Stummfilmen

Der September gehört in der Grossen Halle seit ein paar Jahren dem Film und der Musik. Und zwar in Kombination: Stummfilme und diese untermalende, interpretierende, verstär-kende Musik.

Bach zu «Nosferatu» (Christof Escher und das Sinfonia Ensemble) , Jazz von Koch-Schütz-Studer und Paed Conca zum «Kabinett des Doktor Caligari», das Ensemble Musica nel buio mit einer Komposition von Marco Dalpane begleitet Buster-Keaton-Kurzfilme.

Ästhetik des Sparens

Tanz ist zum ersten Mal Teil dieses September-Festivals in der Grossen Halle. Die ursprüngli-che, von Carmin Perrins Plastik inspirierte Idee hätte ideal zur Verbindung von Film und Mu-sik gepasst. Mit «Beyond» gibt es jetzt eine andere Verbindung: Seit langem öffnet sich die Grosse Halle für theatralische und tänzerische Produktionen mit Kindern und Jugendlichen.

Nun kommt eine weitere hinzu. Sie lotet den einzigartigen fast leeren Raum der Halle neu aus, nutzt die Chance dieser gedeckten Allmend, die darin besteht, stets von Neuem begin-nen zu können. Der leere Raum ist der Ausgangspunkt. Dass er diesmal fast völlig leer bleibt, die bühnenbildnerischen und musikalischen Mittel minimal sind, prägt die Ästhetik und rückt den Raum ins Zentrum.

Mut und Wille

Was Karin Hermes und Giorgio Andreoli (Programmation Grosse Halle), über die bald zu se-hende Tanzaufführung berichten, könnte vermuten lassen, sie sei konsequent als «arte povera» konzipiert worden. Dem ist nicht so. Dass allenthalben gespart werden muss, kann sich künstlerisch aber durchaus positiv auswirken. Einmal mehr erweist sich, dass der Wille, Kunst zu produzieren, stärker sein kann als negative Förderentscheide.

Davon abzuleiten, auf die Förderung komme es nicht an, wäre jedoch zynisch. Man wünscht dem Mut aller Beteiligten den verdienten Erfolg. Und denen, die Unterstützung versagten, den Mut, sich eines Besseren belehren zu lassen.