Lilly Kellers Leben und Kunst

von Christoph Reichenau 11. Juni 2015

Journal-B-Autor Fredi Lerch hat der Künstlerin Lilly Keller ein Porträt gewidmet, auf das beide stolz sein dürfen. Eine Liebeserklärung an die aussergewöhnlich freie Frau mit einem klaren Anspruch an die Kunst und das Kunstschaffen.

Sie dachte eigenständig von klein an, war schon als Kind eine Rebellin, lernte früh Nein zu sagen und abzulehnen, was sie nicht interessierte. Dafür nahm sie – oft subversiv und mit List – Schwierigkeiten, Niederlagen, Umwege in Kauf. Sie folgte unbeirrt ihrer Neugier, ihrem Wissensdrang, ihrer Lebenslust und hatte das Glück, dafür Geliebte, Freunde, Partner zu finden.

Geschaffen hat sie in fast 70 Jahren ein formen- und farbenreiches künstlerisches Oeuvre in vielen Materialien und Techniken, an die 2000 Werke und viele Skizzen- und Gedanken-Bücher. Aus dem Bedürfnis nach Freiheit und der Abneigung des patriarchalen Kunstbetriebs lebt sie als Frau und Künstlerin ein Leben, das seinerseits in Radikalität und Vielgestaltigkeit, in der Verbindung von Naturbezug und Eigenschöpfung, eine Art Kunstwerk ist.

Kein Sehnen nach verpassten Chancen

Lilly Keller, geboren 1929 in eine gutbürgerliche Familie in Muri bei Bern, heute wohnhaft in Montet über dem Neuenburgersee und Thusis, verkörpert fast prototypisch das Lebensgefühl, das Suchen, das Machen und Gestalten der Berner – und einer internationalen – Kunstszene in den 1950er- und 1960er-Jahren, die mit den Namen Meret Oppenheim, Daniel Spoerri, Sam Francis, Toni Grieb, Franz Meyer, Harald Szeemann, aber auch ihres Fotografen Kurt Blum, verbunden ist.

Keller kreiste als Schmetterling mittendrin und stand doch wohl nicht selten am Rand. Ihr Blick auf jene Zeit wie auf die Gegenwart ist realistisch und humorvoll, ohne Ranküne und Überhöhung: So war es und es war gut so. Kein Klagen, kein Sehnen nach verpassten Chancen. Lilly Keller ergriff Gelegenheiten und Menschen beim Schopf, unzimperlich, oft selbstbewusster als sie wohl wirklich war, ohne falsche Rücksicht.

Ablehnung des Spiessertums

Auffällig, dass die Freiheitssuchende durchaus normativ sein kann, etwa in ihrer Ablehnung des Spiessertums, und gestanzte Lehrsätze über Richtiges und Falsches in der Kunst äussert. Erstaunlich jedenfalls, wie wichtig sie ihr künstlerisches Suchen und Schaffen seit Beginn in den Büchern dokumentiert – und damit auch ihren Anspruch, ernst genommen zu werden als Künstlerin, nicht als Frauen-Künstlerin. Einen Anspruch, der das so deutlich ins Licht gerückte Zufällige oder Traumtänzerische ihres Lebens ein wenig relativiert.

Lerchs Porträt einer Aussergewöhnlichen

Fredi Lerch, Journalist, Lyriker, Mitherausgeber der Werkausgabe C.A. Loosli und Chronist der Berner Subkultur von 1950 bis 1970 (Projekt NONkONFORM) hat von 2011 bis Ende 2014 Lilly Keller immer wieder besucht und befragt. Entstanden ist ein Text über eine aussergewöhnliche Frau, der als «literarisches Porträt» bezeichnet wird. Die Gattungsbezeichnung überzeugt nicht. Es ist eine schöne, angemessene, geschmeidige, zuweilen überraschende Sprache, die Lerch schreibt, aber keine literarische. Wo es um Namen, Daten, Orte, Zeitangaben, Zusammenhänge geht, ist der Text sehr akribisch, ja bemüht recherchiert.

Die Diskussionen zwischen Lilly Keller und Fredi Lerch, die es zahlreich gegeben haben muss, sind sorgsam ausgeblendet; nur hier und da kommt ein winziger Fetzen zum Vorschein, fast als hätte man ihn beim Ausmerzen übersehen.

Zu lesen ist kein Dialog, sondern eine sorgsam zugerichtete Lebensauffassung monologischer Art. Das Bemühen um Objektivität und Tatsachentreue bei der Schilderung des radikal subjektiven Lebens und der grossen Individualität, ja Singularität Lilly Kellers fällt positiv auf. Die Kehrseite davon ist der ab und zu aufkommende Eindruck einer Bewunderung des Schreibenden für sein Gegenüber.

Eine fehlende Dimension

Etwas fehlt. Ausgesprochen und nicht ausgesprochen erscheint Lilly Keller als eine Fee der Freundschaft, der offenen Beziehungen, der Zugeneigtheit, der Hilfsbereitschaft, des Teilens. Was so erscheint, wird indes nicht durch Namen und Begebenheiten belegt, wenn es nicht um prominente Geliebte geht. Das empfinde ich als Lücke. Es gäbe Lilly Kellers Leben ausserhalb und mit der Kunst eine nochmals weitere Dimension.

Was bleibt? Das Porträt einer bemerkenswerten Frau, die ihre Freiheit erkämpft und ertrotzt hat, weil sie nicht anders konnte, nicht anders kann. Einer Frau, deren kühnes Leben und überraschende Kunst vielfach ineinander verschlungen sind und im Park von Montet wohl eine Symbiose eingehen. Einer Liebenden, die Treue grundsätzlich über alles stellt, aber nicht in jedem Moment, und die klar feststellt: «Nur Werke sind Taten, blosses Gerede ist keine Tat.»

Einer Künstlerin, die sich – da Frau – in ihrem Schaffen von den Männern (und den auf diese bezogenen Frauen) nie wirklich vollständig ernst genommen fühlt. Einer Person, die wusste und weiss, was sie will, und doch sagt: «Mit dem Willen erreichst du nichts. In der Kunst ist der Wille das Schlechteste. Das Nächste kommt einfach. Du darfst es nur nicht wollen.»

«Ganz durchschauen wirst du mich nie»

Mehrmals schreibt Fredi Lerch von der «kühlen Distanziertheit, die ihr Werk umgibt» und deutet Lilly Kellers scheu anmutenden Blick als «ganz-durchschauen-wirst-du-mich-nie».

Das etwas künstlich künstlerisch gestaltete Buch eröffnen und beschliessen farbige Bildmontagen mit Werken von Lilly Keller aus einem ihrer Originalbücher sowie mit Fotos von Fredi Lerch und Josef Felix Müller. Die Bilder lassen den Zauber des Wohnorts und des ihn umgebenden Parks erahnen und zeigen gestaltete Natur und geschaffene Kunst als zwei Teile eines einzigen Werks.