Der helle Wahnsinn im pflotschigen Tobel

von Fredi Lerch 11. Februar 2015

Für seine Lesung aus «Simeliberg» wurde der Berner Autor Michael Fehr 2014 in Klagenfurt mit einem Preis ausgezeichnet. Jetzt ist der Text – ein Krimi aus dem hintersten Krachen – als Buch erschienen.

Die Sache mit dem «Simeliberg» ist die: Griese, der Gemeinsverwalter mit deutschem Vater, also ein mehbesserer Ausländer, den man braucht, wenn er schon da ist – Griese, muss im Bauernhaus im Krachen unten Schwarz abholen, den alten Landmann, dessen Frau auf mysteriöse Weise verschwunden ist, und ihn auf die Sozialhilfebehörde in die Stadt bringen, wo man ihn sich anschauen will von wegen «fürsorgerischem Entzug der Selbstverwaltung».

Kommunismus auf dem Mars

Schwarz ist ein alter Spinner, aber ein raffinierter. Er bereitet sich auf den Exodus vor, weil er auf dem Mars den Kommunismus begründen will: «hier bin ich der Letzte / droben werde ich von den Ersten sein». Das Raffinierte an diesem Spinner: Er hat eine Horde halbbackener Studis dazu gebracht, ihm als Guru zu «beigenweise Tausendernoten» zu verhelfen, damit es reicht für seine Reise. Die Studis sind seine nützlichen Idioten, die sich als paramilitärische Schwarzhemden mit Maschinenpistolen auf «eine neue Ordnung in diesem Land» vorbereiten, von der ihnen der Alte gesagt hat, diese Ordnung sei der Sozialismus, aber der lasse sich nur dann realisieren, wenn man der Masse, die man bescheisst, den «Ultranationalismus» zum Frass vorwerfe.

Zwischen den Schwarzhemden und ihrem Guru Schwarz und der Frau Weiss mit dem weisslichen Gesicht und der weisslichen Brille, die auf der Sozialhilfebehörde für die «Fallverwaltung» zuständig ist, trampt Griese mit dem welschen Grauton im Namen und der «Bauerundwaldschratrepertierbüchse» im Landrover, halb aus Pflichtbewusstsein, halb aus Neugier vom Sozialfall Schwarz immer mehr in den Kriminalfall Schwarz hinein, der schliesslich ergibt, dass der Landmann seine Frau nicht umgebracht, sondern bloss vergraben hat, nachdem sie ihm umgestanden ist. Das interessiert allerdings nicht mehr gross, weil sich unterdessen die Frage stellt, wie viele Särge es für die Überreste der halbbackenen Studis braucht, die während Schwarzens Aufenthalt in der Stadt in seinem Bauernhaus militant, aber unsachgemäss zugange waren.

Dass sich am Schluss die Indizien zunehmend gegen Griese richten, liegt in der Natur der Sache: Wo Schwarz und Weiss wissen, wo Gott hockt, ist Grau ein Doppelagent und schuld an allem.

Michael Fehrs Prosa

Im letzten Sommer hat der Schriftsteller Michael Fehr an den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2014 in Klagenfurt erfolgreich Ausschnitte aus diesem Text vorgelesen. Er erhielt einen Spezialpreis, «Simeliberg» wurde als «versrhythmische Welt» gewürdigt. Aus meiner Sicht ist das eine falsche Zuschreibung. Fehrs kurzzeilige Prosa sieht zwar auf den ersten Blick aus wie ein Versepos, weil sie nicht durch sinnbildende Abschnitte strukturiert ist, sondern durch die Kurzphrasen einzelner Satzteile. Diese Darstellungsweise hat drei Gründe:

• Zwar betont Fehr, er sei kein Spoken-Word-Autor und kein Vertreter des Poetry-Slam (Education permanente, 4/2014). Trotzdem hat seine Prosa einen stark performativen Charakter und ist insofern Mittel zum Zweck: Fehr absolviert seine Auftritte nicht als Dichter hinter einem Lesepültchen, sondern auf der Bühne als Performer. Im Klagenfurter Expertengespräch wurde seine Lesung gar als Beispiel für die «Re-Oralisierung der Literatur» angesprochen. Die kurzzeilige «Simeliberg»-Prosa verweist deshalb weniger auf eine «versrhythmische Welt» als vielmehr auf die Partitur eines Sprechstücks.

• Fehr kann wegen einer starken Sehschwäche (juvenile Makuladegeneration) nur mit äusserster Anstrengung lesen. Deshalb hat er eine besondere Schreibmethode entwickelt. Er schreibt seine Entwürfe nicht, sondern er spricht sie. Und er korrigiert nicht mit dem Rotstift, sondern mit besprochenen Kleinstfiles, die er am PC zur definitiven Form montiert. So gesehen spiegelt der Drucktext Fehrs Arbeitsmethode.

• Würde die Textgestalt bloss diese Methode spiegeln, könnte man sagen, der Text sei unfertig, der Autor hätte ihn zum ordentlichen Prosatext zusammenziehen müssen, wenn er denn so gemeint sei. Tatsächlich aber verweist gerade diese Darstellungsweise auf die singuläre Literarizität dieser Prosa: Fehr redigiert seine Texte nicht mit den Augen, sondern mit den Ohren. Deshalb kann er nur dann in die Struktur des im Fluss befindlichen, aber nicht überblickbaren Textes eingreifen, wenn er sich vorzustellen vermag, wo anders ein bestimmtes Sprachfile zu stehen kommen soll. Fehrs Arbeitsweise strukturiert den Erzählungsfluss nicht primär mittels Über-Sicht, sondern mittels Gedächtnisfähigkeit. Das ist der Grund dafür, dass sich die narrative Struktur seiner Erzählung in mehr und kürzeren Sinnschritten entfaltet als gewohnt. Der Effekt davon ist die Langsamkeit, die seiner Prosa zugeschrieben wird. Fehrs Methode dieser strengen Fügungen wird durch die Kurzzeilen adäquat gespiegelt. 

Kurzum: In «Simeliberg» ist Fehr kein versepisch ambitionierter Lyriker, sondern ein handfester Prosaist.

Simelibärg oder Simeliberg?

Aber warum heisst Fehrs Buch überhaupt «Simeliberg»?  Der Text nimmt kein einziges Mal Bezug auf seinen Titel.

Sofern «Simeliberg» als «Simelibärg» auf den Refrain des «Alten Guggisberglieds» anspielen sollte, könnte der Titel ein Hinweis darauf sein, wo sich Fehr den Ort der Handlung vorstellt: im krachenreichen Hügelland zwischen Guggisberg und dem Rüschegg-Graben. (Otto von Greyerz hat als Kommentator des Liedes im «Schweizerischen Archiv für Volkskunde» [16/1912] vermutet, «Simes Hans-Joggeli änet dem Bärg» sei im Weiler Wyden nördlich von Gambach in einem Haus mit dem Beinamen «ds Simeli» zuhause gewesen.)

Sofern der Titel jedoch auf das Märchen «Simeliberg» der Gebrüder Grimm anspielt, könnte Fehrs Text als Parabel gelesen werden: Nur wer die Wörter richtig braucht und nicht vor lauter Gier «Semsi» mit «Simeli» verwechselt, kommt zu Reichtum – dem anderen wird der Kopf abgeschlagen. Dass in Fehrs Text ausgerechnet jener zu Reichtum kommt – nämlich der Landmann Schwarz –, der vom Kommunismus auf dem Mars redet und so Wahn und Wirklichkeit verwechselt, könnte eine paradoxe Anspielung auf dieses Märchen sein.

Aber vermutlich täusche ich mich zum Verbarmen. Auf die tiefste Wahrheit von Fehrs strauber Geschichte kommt man allweg nicht so schnell.