Mein Kulturort

von Fredi Lerch 27. Dezember 2014

Zwischen Mai 2003 und Frühsommer 2012 betrieben Theo Umhang und Susanne Schmid-Walder an der Militärstrasse 60 einen kleinen Kulturort mit grosser Ausstrahlung: den «raum». – Rückblick und Vorschau.

Am Abend des 22. Oktobers 2004 erlebte ich im Parterre der Militärstrasse 60 nahe dem Breitenrainplatz eine Sternstunde. Ich sass auf einem Klappstuhl in einem überfüllten Raum, der eigentlich aus zwei mit einem breiten Durchgang verbundenen Zimmern bestand. Dann öffnete sich die Aussentüre, die aufs Trottoir ging, und ein gut sechzigjähriger Mann führte am Arm fürsorglich einen 88-jährigen herein. Die beiden hatten Mühe, an den Stuhlreihen vorbei bis zum wenig erhöhten Podium zu kommen. Dort versank der kleine, gebrechliche Alte fast in seinem Brockenhaussessel, klaubte aus seiner Kitteltasche eine Zigarette und begann zu rauchen.

So begann die Veranstaltung «Zeitzeugen im Gespräch» mit Theo Umhang und seinem Gast, dem Ethnopsychoanalytiker Paul Parin. In einem Frage- und Antwortspiel entwarfen die beiden an jenem Abend ein faszinierendes zeitgeschichtliches Panorama: von Parins Zeit als Kriegschirurg in Titos Partisanenarmee 1943 bis zu den Jugoslawienkriegen zwischen 1991 und 2001. Wie Parin dabei im Plauderton scharfsinnige Analyse, faktische Präzision und bildhafte Erzählung zu verbinden wusste – das eben wurde mir zur Sternstunde, die ich nicht vergessen werde.

Galerie, Vortragsraum und ein Ort zum Hingehen

Nachdem sich Theo Umhang, weitgereister Historiker und Gymnasiallehrer, hatte frühpensionieren lassen, eröffnete er zusammen mit der Sekundarlehrerin Susanne Schmid-Walder, die eben den Master in Kulturmanagement abschloss und ein Praxisfeld suchte, im Mai 2003 den «raum» – ursprünglich mit dem Untertitel «Geschichts- und Kulturwerkstatt Bern».

Die Idee war, einen Veranstaltungsort zu kreieren, der funktionieren sollte als Galerie, als Ort für Lesungen und Gespräche und als niederschwelliger Treffpunkt fürs Quartier. «’raum’ vermittelt Raum, sich umzusehen und umzuhören hinter Mauern – realen Mauern und Mauern in den Köpfen», steht in einem frühen Konzeptpapier.

Eingespielt hat sich schnell ein Betrieb, der pro Jahr acht Ausstellungen erlaubte. Schmid-Walder: «Gewöhnlich fand die Vernissage an einem Freitagabend statt. Am Freitag darauf eine Lesung, eine Woche später ein Gesprächsabend und noch einmal eine Woche später die Finissage. Danach Abbau, Aufbau und die neue Vernissage.» Ideen für nächste Veranstaltungen entstanden nicht selten im Gespräch mit den ein- und ausgehenden Künstlerinnen und Autoren: Um den «raum» entstand so schnell ein wachsendes Netzwerk.

Erbe, Engagement und ein bisschen Stolz

Der Arbeitsaufwand war gross. Umhang sagt, er habe «mindestens» halbtags gearbeitet; Schmid-Walder stahl sich die Zeit neben der Arbeit als Lehrerin und neben der Familie mit Kindern. Um neue Kontakte zu knüpfen, reisten die beiden: Sie klingelten nicht nur an Parins Haustür in Zürich, sie fuhren auch zu Sophie Elbaz nach Paris oder zu Vĕra Koubová nach Prag. Umhang koordinierte die Zusammenarbeit mit dem Kulturlokal «Ono», dem «Café Kairo» und anderen. Gemeinsam machten sie Öffentlichkeitsarbeit und hängten die Werke der nächsten Ausstellung. Für die Präsenz während der Öffnungszeiten teilten sie sich auf.

Allein die Miete für den «raum» betrug um die 2000 Franken. Die Eintritte und die Kunstverkäufe während der Ausstellungen (von denen der «raum» nur 30 Prozent behielt) reichten nicht sehr weit. Und auch wenn die Stadt Bern bald einmal mit einem Unterstützungsbeitrag die Honorare der Auftretenden trug, musste Umhang das Projekt kontinuierlich sponsern. «Nur weil wir nicht aufs Geld schauten, hatten wir die Freiheit, jenen Ort zu realisieren, den wir wollten», sagt er. «Dass wir eine Luxussituation schaffen konnten, die Künstler und Autorinnen gefördert hat – darauf sind wir schon ein bisschen stolz.»

Rosties, Prosecco und die Kunst des Aufhörens

Eine typische Aktion des «raums» war die Sache mit den «Rosties»: Der Filmemacher Felix Tissi und die Tänzerin Cécile Keller gestalteten eine Ausstellung mit kleinen, figurativ aussagestarken, verrosteten Metallstücken – «Objets trouvés», denen sie ironische Titel gaben. Später hat sich die Schauspielerin Lisa Jenni davon zu einer Performance inspirieren lassen. Dann verfassten Rolf Hermann, Sandra Künzi, Pedro Lenz, Christoph Simon, Raphael Urweider und Sabine Wen-Ching Wang zu den Figuren Texte. Dann machte der Fotograf Dominique Uldry eine «Rosties»-Kunstfoto-Serie. Und schliesslich produzierte Jürg Spichiger in seiner Edition EigenART eine «Kunst- und Literaturbox» unter dem Titel «Tinu im Reich der Sinne – kleine Archetypologie des Rostes» (2009). Am Rosties-Projekt arbeiteten schliesslich mehr als zehn Kulturschaffende. In ihren Arbeitsprozess wurde das Publikum mehrmals einbezogen. Nicht zuletzt dieser Prozess war eine kulturelle Leistung. Mehr ermöglicht als gesteuert haben ihn im Hintergrund Schmid-Walder und Umhang.

In vier dicken Gästebüchern mit den eingeklebten Einladungskarten sind rund achtzig verschiedene Ausstellungen, wohl gut hundert Lesungen und um die vierzig Zeitzeugen-Gespräche dokumentiert. Nicht verzeichnet sind all die Besuche von Leuten, die zwischenhinein vorbeikamen, weil sie wussten: Hier gibt es ein Glas Prosecco und hier ist Susanne oder Theo, die zuhören können, und wenn sie etwas sagen, dann sagen sie etwas Kluges.

Ein Ende und viele Neuanfänge

Nach der Frühjahrssaison 2012 schloss der «raum». Umhang: «Ich habe mein Sponsoring nie bereut.» Schmid-Walder: «Es hätte damals ein anderes Konzept, einen neuen öffentlichen Auftritt, einen grösseren Raum und einen zusätzlichen Sponsor gebraucht. Ein solches Projekt wäre nicht mehr der ‘raum’ gewesen.» – Ob sie beide den Schliessungsentscheid nie bereut hätten? – Umhang antwortet: «Der ‘raum’ war ein Projekt. Ein Projekt hat einen Anfang und ein Ende.»

Das klinge ungefähr wie: Der Geist weht, wo er will. Mir fehle der «raum» an der Militärstrasse, sage ich. Schmid-Walder: «Es entstehen immer wieder Räume. Und wenn die Räume fehlen, kann man für den Anfang einen Autor oder eine Künstlerin gegen eine kleine Gage zu sich heimholen und dazu die Bekannten einladen.»

Sie hat wohl Recht. Irgendwo geht es immer weiter. Man muss einfach stets neu herausfinden, wo der Geist gerade weht. (Und wenn man etwas dazu beiträgt, schadet das gewöhnlich nicht.)