Es gibt eine Alternative

von Christoph Reichenau 25. November 2014

Ein belgischer Film, eine überall mögliche Geschichte und doch ein hiesiges Thema: «Deux jours, une nuit» betrifft uns alle wie eine antike Tragödie. Der Film ist dokumentarisch präzise, dramaturgisch auf das absolute Minimum reduziert, durchs Band perfekt besetzt. Anschauen!

Wegen einer Depression monatelang krankgeschrieben, verliert Sandra ihre Stelle. Vom Chef vor die Alternative gestellt, entweder Sandras Entlassung zu billigen oder ihre Geldprämien zu verlieren, haben die Kolleginnen und Kollegen für die Prämien votiert, die sie in ihren bescheidenen Verhältnissen gut brauchen können.

Eine Kollegin gibt die Sache nicht verloren und erreicht am Freitagabend beim Chef, dass am Montag neu abgestimmt werden kann. Sandra hat zwei Tage und eine Nacht Zeit, bei ihren 16 Kollegen eine Mehrheit für sich – und gegen die Prämien – zu finden.

Darf man sich einmischen?

Der schwere Gang zu den andern, mit denen sie mehrheitlich nichts verbindet ausser dem Arbeitsort, stellt Sandra vor schwierige Fragen: Darf sie ihre Kollegen forcieren, sich in ihre Lage einzufühlen? Darf sie damit in Kollegenfamilien Zwist auslösen? Darf sie – umgekehrt – den Kampf aufgeben und riskieren, mit dem Mann und den zwei Kindern aus dem Häuschen wieder in eine Sozialwohnung umziehen zu müssen? Darf sie die Unterstützung ihres Mannes, der zu ihr hält, nur als Mitleid wahrnehmen und nicht als Liebe?

Durch Höhen und Tiefen hält Sandra durch. Sie besucht ihre Kolleginnen und Kollegen zu Hause und entdeckt deren fragile und prekäre Lebenswelten. Am Montagmorgen ist Sandra eine andere: Selbstbewusster, sicherer in der Beziehung zu ihrem Mann und in der Familie. Wie immer die Abstimmung ausgeht, Sandra wird mit neuem Mut einen eigenen Weg suchen.

Was die Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne in einem ebenso einfachen wie höchst kunstvollen Film zeigen, der an einem ganz konkreten «Fall» viele Facetten und Nuancen aufscheinen lässt, ist eine Geschichte aus Europa in der Zeit der Globalisierung. Weil asiatische Konkurrenten die Preise drücken, muss Sandras Firma die Kosten senken. Wie, das überlässt der Chef seinen Angestellten. Er manövriert sie damit, ihnen scheinbar eine Wahl lassend, in eine ausweglose Situation.

Liebe und Gerechtigkeit

Unter kleinen Angestellten spielt sich eine antike Tragödie ab. Indem Sandra jeder und jedem die Frage stellt: Meinst Du mich oder Deine Prämie, appelliert sie an deren innere Instanz, das Gewissen. Plakativ gesagt: Während «die oben» ohne Moral Verhältnisse schaffen, müssen «die unten» auf ihre Weise moralisch damit fertig zu werden versuchen.

Ein Lehrstück in Wirtschaftskunde, Ethik, Demokratie, Solidarität und – ja – Liebe. Denn ohne die Liebe ihres Mannes und ohne den Gerechtigkeitssinn von Sandras Kollegin wäre es bei der am Anfang feststehenden und alternativlosen Entlassung geblieben. Ein Lehrstück deshalb auch gegen TINA, also gegen den neoliberalen Glaubenssatz «There is no alternative».