Filmische Wundheilung

von Esther Fischer-Homberger 18. Februar 2014

Im Kellerkino läuft noch immer die wunderbare Dokumentation «Der Gegenwart» über Carlo E. Lischetti, den Erfinder des immerwährenden Kalenders, bestehend aus nur einem Blatt mit der Aufschrift «Heute».

Den Berner Filmemachern Bernhard Nick und Stephan Ribi ist es zusammen mit Carlo E. Lischettis Kindern Nora und Dario (Jahrgang 1984 bzw. 1986) gelungen, die urkomischen mit den himmeltraurigen Seiten des Aktions- und Objektkünstlers Carlo Lischetti, der aus Berns jüngster Geschichte nicht wegzudenken ist, zu einem Ganzen zu verweben. Ihr Werk macht sichtbar, wie ein Film zur psychischen und psychosozialen Wundheilung beitragen kann.

Die Verzweiflung am Leben durchgebrochen

Lischetti, 1946 geboren, hat sich 2005 in seinem Atelier erschossen. Nach dem Krebstod seiner Frau im Jahre 2003 (Barbara Lischetti-Gerber hat seinerzeit als Juristin im Gleichstellungsbüro der Uni Bern gearbeitet) ist seine Verzweiflung am Leben, die wohl die andere Seite seines Witzes war, durchgebrochen, samt Alkohol und Paranoia. Krankheit und Sterben der Mutter seien ein entsetzlicher Schock für sie gewesen, sagt Nora Lischetti, derjenige des Vaters eher eine Erlösung.

Lischetti hat neben dem immerwährenden Kalender zum Beispiel auch die Schere für unlösbare Probleme erfunden und einen «Akt in Öl» geschaffen. Die Schere ist mit einem Schloss versehen, sodass man sie gar nicht öffnen kann, der Akt ist die Skizze einer nackten Frau, eingelegt in ein mit Öl gefülltes Fläschchen.

Als Aktionskünstler hat er sich mit «Gassi gehen» unsterblich gemacht, indem er ein Poulet an einer Schnur durch die Altstadtgassen hinter sich herzog, oder mit dem «Liegenden Teppich», auf dem er es sich am Aareufer bequem machte.

Auch politisch aktiv

Die Filmer lassen die Lischetti-Geschwister manche Aktionen ihres Vaters re-produzieren, so etwa die «spanische Reitschule», wo Nora eine Bratpfanne hinter sich über das Berner Pflaster zieht, in welcher eine Freundin sitzt – das mache ihr aber ein heisses Füdli, lacht diese.

Carlo Lischetti ist in Bern auch politisch aktiv geworden. Mit Polo Hofer und anderen FreundInnen hat er die Partei der «Härdlütli» gegründet und 1971 für den Stadtrat kandidiert – in welchem er dann tatsächlich aktiv werden konnte. «Wenn das Regieren ist, ist Furzen Musizieren», kommentierte er mit einem Gotthelf-Zitat den politischen Betrieb. Das seinerzeitige Wahlplakat mit den nackten Härdlütli haben die Filmer mit den älter gewordenen Parteigenossen nachgestellt.

Dokument über «roaring bern»

Viele alte Freunde und Weggefährten kommen zu Wort – der Schauspieler Max Rüdlinger etwa, oder Polo Hofer, sowie einige der zahlenden Abonnenten auf die Kunstwerke des GegenWarts Lischetti, darunter etwa der Satiriker und Journalist Heinz Daepp.

«Der Gegenwart» ist ein absolut gelungenes Dokument über «roaring bern», über eine Zeit und Atmosphäre, in der unsere liebe Bundeshauptstadt für einmal nicht wirkte wie «ein müder Furz» (Carlo Lischetti), und die bis heute nachwirkt. Der Film ist ein Geschenk und ein Glücksfall, nicht nur für Bärner Lüt.