Vertraglich verliebt

von Sofia Kwiecien 16. März 2021

Vier Mal Sex pro Monat, zärtliche Berührungen und eine Paartherapie. Das schreibt der «Vertrag einer qualitätsvollen Liebesbeziehung» vor. Können so Liebesgefühle entstehen? Jeanne und Mike wollen es herausfinden.

Nach einigen Minuten Liebeschanson und Britney Spears ist es soweit: Das elegant gekleidete Paar erscheint auf dem Bildschirm, vor ihm liegen rote Mappen auf dem Tisch. Der Raum im Hintergrund ist schlicht gehalten, die einzige Dekoration bildet ein Strauss Schleierkraut in einer weissen Vase. Die rund 50 Zoom-Gäste wähnen sich vor dem Standesamt – die «Zeremonie zur Unterzeichnung des Vertrags einer qualitätsvollen Liebesbeziehung» kann beginnen. So nennt Jeanne ihre jüngste Kunst-Performance.

Sie und Mike sehen sich nach einem ersten Tinder-Date und einer anschliessenden Besprechung des Vertrags zum dritten Mal in ihrem Leben. Für die nächsten 365 Tage werden sie mindestens 32 Stunden pro Monat zusammen verbringen, vier Mal pro Monat miteinander schlafen, Familie und Freunde des anderen kennenlernen, in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschen und einen gemeinsamen Instagram-Account pflegen – unter anderem.

Nachdem sie den Vertrag unterzeichnet haben, dürfen sich die frisch und befristet Vermählten küssen. Einen zweiten Kuss lehnt Mike vorerst ab, obwohl ein Gast darum gebeten hatte. So auf Knopfdruck scheint das doch nicht zu klappen. Vielleicht entstehen die Gefühle etwas später, wenn Jeanne ein Risotto für Mike kochen wird. «Willkommen in der Welt von Jeanne und in der Familie», sagt ihr Vater zu Mike und lacht. Dann ist die virtuelle Zeremonie zu Ende.

Liebe als durch­dachte Angelegenheit

«Man sagt, dass die Liebe etwas Irrationales sein muss, etwas Mystisches», erzählt Jeanne rund zwei Wochen später im Progr, in welchem sie sich ein Atelier mit anderen Studierenden der Hochschule der Künste teilt. «Ich glaube hingegen, mit jemandem zusammenzuleben, ist häufig eine rationale Wahl.»
Rational hörte sich auch der Vertrag an, den die beiden an der Zeremonie abwechslungsweise und Punkt für Punkt vorgelesen haben: Unzählige Artikel und Unter­punkte regeln die einjährige Beziehung bis ins Detail. Sie betreffen die Finanzen, das gegenseitige Verhalten, auch die gemeinsame Zeit – neben dem Sex sind auch Dates, Ausflüge und Ferien vorgesehen. Diesen Sommer soll es nach
Italien gehen.

Möchte eine Person den Vertrag einseitig künden, bezahlt sie einen Fixbetrag von 200 Franken und zusätzlich 100 Franken für jeden verbleibenden Monat. Ist das Jahr vorüber, endet der Vertrag mit zwei Optionen: Entweder sie heiraten oder sie sehen sich nie wieder. In dieser Hinsicht soll es keinen Raum dazwischen geben, bekräftigt Jeanne.

Mitverfasst hat den Vertrag eine Freundin von ihr, welche über die nötige juristische Expertise verfügt. Sie ist gleichzeitig Schiedsrichterin, sollte eine Regel unklar sein oder verschieden interpretiert werden. Tatsächlich erinnern einige Verpflichtungen an einen Ehevertrag. Mit dem Unterschied, dass viele Bestimmungen drinstehen, die in den meisten Beziehungen wohl informell und weniger streng geregelt sind – oder wer verpflichtet sich schon zu Beginn einer Beziehung für eine Paartherapie, wie das Jeanne und Mike tun?

Mit einem Fragebogen zur perfekten Beziehung

Jeanne interessiert sich schon seit Längerem für das Thema Rationalität in Liebesbeziehungen. In Paris, wo sie studiert hat und teilweise wohnt, ist sie in mehreren Theatergruppen aktiv. In einer davon haben sie sich mit dem Scheitern von Liebesbeziehungen auseinandergesetzt.

Jeanne verfolgte das Thema weiter. «Wie optimiere ich mich selbst für eine Beziehung? », fragte sie sich und erarbeitete einen Fragebogen im Marktforschungsstil, den sie an ihre ehemaligen Liebhaber schickte. Der Prozess führte schliesslich zur Idee mit dem «Vertrag einer qualitätsvollen Liebesbeziehung» als eine Art Anleitung für das perfekte Paar.

Als grosse Quelle der Inspiration nennt sie Bücher der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz. Diese setzt sich seit Jahrzehnten mit der Frage auseinander, welchen Einfluss der Kapitalismus, die Gesellschaft oder Filme auf Liebesbeziehungen haben. Illouz stellt fest, dass die zunehmende Freiheit bei der Partnerwahl auch zu mehr Unverbindlichkeit in den Beziehungen geführt hat – und dass Frauen sich häufiger als Männer die Schuld an gescheiterten Beziehungen geben.

Gefühle auf den zweiten Blick

«Das Ziel ist zu sehen, was mit einem solchen Vertrag entstehen kann. Ob sich aus einer rein rationalen Entscheidung Gefühle entwickeln können», erklärt Jeanne den Gedanken hinter der Performance.
Gleichzeitig will sie die Performance als Kritik an den vorherrschenden Vorstellungen zur Liebe verstanden wissen. «Heutzutage ist Romantik mit zahlreichen Normen behaftet. Deshalb war es interessant für mich zu sehen, ob sich diese Vorstellung brechen lässt», meint Jeanne.

Schliesslich würden sich die einzelnen Bedürfnisse und Erwartungen von Person zu Person unterscheiden, auch in Bezug auf die Romantik. «Sollte man die Normen nicht in jeder Beziehung neu definieren?», fragt Jeanne und verweist sogleich auf die Schwierigkeit einer solchen Vorgehensweise: «Es gilt einfach nicht als sexy, genau zu sagen, was man will oder braucht.»

Doch genau das setzt der Vertrag voraus. «Er nimmt jeglichen Aspekt der Verführung weg: Die Unsicherheit, die Gefahr und das Mystische.» Das habe alles verändert, sagt Jeanne, die per Flyer, Onlineinserat und auf Tinder nach Willigen für diese Performance gesucht hat.

Auch wenn die Transparenz auf Kosten der Romantik ging, hatte sie ihre eigenen Vorteile: Was nämlich auf die Inserate folgte, seien die tiefgründigsten Dates gewesen, die sie je erlebt hat. «Du sprichst beim ersten Treffen über die Liebe, die Sexualität oder die Familie.» Das habe von Anfang an für eine intime Stimmung gesorgt. Gleichzeitig betont Jeanne, dass sie mit dem Vertrag keine neuen Normen für Liebesbeziehungen vorschlagen will. Schliesslich müsse jeder seinen eigenen Weg finden, Liebe zu zeigen und zu stärken.

Der Bauch entscheidet mit

Weniger tiefgründig als die Dates waren die Kriterien, welche die Kandidaten – Jeanne wollte in ihrer Performance bewusst auf eine monogame, heterosexuelle Beziehung setzen – erfüllen mussten: Sie sollten entweder Französisch oder Englisch sprechen, in Bern leben und sich auf die Performance einlassen wollen.

Gleich mehrere Datingpartner stellten in dieser Hinsicht eine Herausforderung dar: Sie befanden sich in einer polyamoren Beziehung – vereinfacht gesagt in einer Partnerschaft mit mehreren Menschen. Jeanne stand vor der Frage, ob sie ihre Kriterien anpassen musste. Spannend sei gewesen, dass die Männer komplett verschiedene Hintergründe hatten. «Es gab Handwerker, Informatiker, Handelsschulabsolventen und solche, die im Immobilienbereich tätig waren.»

Insgesamt hat sich Jeanne mit neun Männern getroffen, drei davon waren interessiert, bei der Performance mitzumachen. «Der Erste hätte die Kriterien erfüllt, aber ich hatte ein ungutes Gefühl dabei.» Insofern seien nicht ausschliesslich rationale Kriterien im Spiel, gibt sie zu. Noch heute habe sie regelmässig Kontakt zu einigen der Männer und tausche sich mit ihnen aus.

Schliesslich traf sie auf Mike, der sich als enthusiastischer Kandidat entpuppte, um die Performance gemeinsam mit ihr durchzuführen. Wie seine Mitbewerber hat Mike beruflich nichts mit Kunst zu tun. «Ich fand die Idee vom ersten Moment an sehr interessant und spannend», sagt er bei der zweiten Begegnung im Progr. «Es ist eine neuartige persönliche Erfahrung, die ich unabhängig vom Ausgang schätzen werde.» Seine Eindrücke hält er in einem Tagebuch fest, wie er erklärt.

«Bevor ich Mike traf, hatte ich mir vorgenommen, dass dieses Date das letzte für eine Weile ist», erklärt Jeanne. Ausgerechnet er war aber der Richtige für diese Performance. Das klinge schon fast ein wenig nach Schicksal, sagt Jeanne und lacht.

Bis jetzt scheint es zu funktionieren, bestätigt Mike. Auch wenn, wie Jeanne einwirft, sie ihre Differenzen haben. «Für mich sind wir hauptsächlich durch die soziale Welt beeinflusst; Mike hingegen erklärt viel mit der Biologie, dem Instinkt.»

Trotzdem betonen die beiden, wie ernst sie die Performance nehmen und wie gewillt sie sind, das Jahr gemeinsam zu verbringen – rechtlich dürfte der Vertrag wohl keine Gültigkeit haben, moralisch fühlen sich aber beide an ihn gebunden.

Das Stillen der Neugierde

Die Kunstaktion löste bisher viele Reaktionen aus. «Habt ihr bereits miteinander geschlafen?», lautet häufig die erste Frage der Leute, sagt Jeanne. «Sie trauen sich zu fragen, aber verspüren trotzdem Scham.»

Mike und Jeanne beantworten die Fragen gleich öffentlich. Auf dem gemeinsamen Instagram-Account dokumentieren sie ihre bisherige Zeit miteinander, ihre Fortschritte und Entwicklungen. Dabei versuchen sie, die Performance verständlich zu machen.

Auf dem öffentlichen Account befinden sich wöchentliche Updates und sorgfältig ausgewählte Beiträge wie eine Monatsstatistik, welche über die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen Auskunft gibt. Neben Tabellen und Berichterstattung gewähren sie auch intime Einblicke in die Beziehung.

Nach dem Gespräch rauchen Jeanne und Mike noch eine Zigarette zusammen. Dann verabschiedet sich Mike mit einem Kuss und macht sich auf den Weg. Er muss noch die Überraschung für den Valentinstag vorbereiten – ein Mixtape, wie er verrät.