Lockdown eines Pissoirs

von Zahai Bürgi 13. Oktober 2020

Das Pissoir im Antoniergässchen, das die Gerechtigkeitsgasse mit der Postgasse verbindet, war den Anwohnenden seit Jahren ein Dorn im Auge. Mitten im Corona-Ausnahmezustand ist es verschwunden. Rückblick auf ein Viertel Jahrhundert Pissoir-Konflikt in der Altstadt.

Kurz nach seinem Bau erhielt das Pissoir im Antoniergässchen im April 1887 eine «Dienstbarkeit» der Stadt Bern. Damit wurde die städtische Liegenschaftsverwaltung Eignerin und hatte fortan auch für dessen Reinigung und Unterhalt zu sorgen. Es war eines unter anderen, die ab Mitte der 90er Jahre dem Toilettenschwund in der Altstadt zum Opfer fallen sollten.

Versuch in den 90er Jahren

Das Pissoir war schon lange Gegenstand von Missmut und Querelen zwischen Anwohnenden und Stadt, bevor 1999 konkrete Schritte unternommen wurden, um seine Schliessung zu bewirken. Die Gelegenheit – die 2001 geplante Gesamtsanierung der Gerechtigkeitsgasse – schien günstig, und man reichte das Baugesuch «Aufhebung Pissoir» ein; voraussichtliche Kosten: zwölftausend Franken.
Nach einigem Hin und Her mit der Stadt antwortete das Statthalteramt mit einer Stellungnahme von drei A4-Seiten – und zwar abschlägig: Die Denkmalpflege sei aus historischen und nicht aus stilistisch-ästhetischen Gründen gegen die Schliessung des Pissoirs. Laut Bauordnung der Stadt Bern, Art. 98, Abs. 1, gehöre es zum Stadtbild und sei punkto Stadtstruktur nicht unwichtig – als sichtbarer Zeuge und Verweis auf den direkt daneben liegenden unterirdischen Ehgraben. Der Bestand des Pissoirs bleibe auch wegen seiner «Dienstbarkeit» zu Gunsten der Stadt gesichert. Darauf bestehe die Stadt weiterhin.

Weitere Anläufe

Während sich der Unmut der Anwohnenden bis 2013 steigerte, flossen viele Abwässer durch die 320 Kilometer lange Kanalisation unterhalb der Stadt. Die Postgässler gaben nicht auf und schrieben einen Brief an Stadtrat Patrik Wyss, dem zwei Fotos beigelegt waren. Sie zeigen etwas unscharf ein mit Fäkalien verschmutztes Antoniergässchen. Es gab Begehungen vor Ort, an denen sich mehrere involvierte Beamte beteiligten, so die Immobilien Stadt Bern ISB und die Abteilung Strassenreinigung und Baubetrieb TVS.
Anfang 2015 verfassten die rührigen Postgässler einen Unterschriftsbogen, und der Leist der Untern Stadt gab grünes Licht in dieser leidigen Sache. Zwanzig Personen unterschrieben die Bitte, das Pissoir endlich zu schliessen, worauf die Immobilien der Stadt Bern eine Liste von Sofortmassnahmen vorlegten: Die beiden grösseren Löcher in der Gasse würden beseitigt, der Ablaufschacht werde gespült, und die Kantonspolizei schicke eine Dienstgruppe, die Anti-Drogen-Einheit «Krokus», vorbei, um regelmässig Patrouillen aufzunehmen. Auch werde das Tiefbauamt die Reinigungssorgfalt zukünftig gewährleisten und starke Geruchsemissionen mit einem fachgerechten parfümierten Wasserzusatz verhindern.
Doch unter den wachsamen Augen der Anwohner geschah – nichts. Sie baten erneut Stadtrat Wyss, etwas zu tun. Dieser war entschlossen zusammen mit seiner Fraktion eine Motion einzureichen. Auch die Medien wurden informiert, und in der Berner Zeitung erschien am 20. April 2015 der Artikel «Das Pissoir stinkt den Anwohnern».

Bedenken

Noch aber waren nicht alle von einer Pissoir-Schliessung überzeugt. Im November 2015 schickte Stadtrat Wyss in einem Mail an die Postgass-Anwohner erste gute Nachrichten: Die gröbsten Löcher im Gässchen seien nun ausgebessert worden, und während der nächsten drei bis fünf Jahre solle der Gussasphalt ganz erneuert werden: «Ausserdem wurde mir berichtet, dass man prüft, ob das Pissoir geschlossen werden soll. Das fände ich jedoch schade, da es eines der letzten Überbleibsel dieser Hinterhof-Abwassergräben ist (die ja heute alle unterirdisch sind) und weil es m.E. zu wenig öffentliche Toiletten hat. Man möchte ja nicht, dass die Leute danach in die Gässchen urinieren, weil es keine Toiletten hat!»
Im offiziellen WC-Konzept der Stadt heisst es: «Pissoirs, die rege benutzt werden und keine Probleme verursachen, sollen erhalten bleiben. Die anderen Standorte können aufgehoben werden.» Viele Postgässler waren sich einig, das Problem-Pissoir im Antoniergässchen dürfte eindeutig im aufzuhebenden Bereich liegen. Gäbe es da nicht die Argumente der Denkmalpflege, die noch immer dagegen sprachen. Doch inzwischen hatten die Verantwortlichen gewechselt, und die Auflagen wurden nicht mehr ganz so streng gehandhabt. Denkmalpfleger Daniel Gross erklärte der Berner Zeitung gegenüber: Das Pissoir im Antoniergässchen sei ursprünglich wie viele andere auch, zum Beispiel im Spysigässli, über dem Ehgraben gebaut worden. Es sei deshalb stadtbaulich interessant, stehe jedoch nicht direkt im Verzeichnis der Denkmalpflege, sei also nicht in seiner Substanz schützenswert.

Antoniergässchen aufwerten

Im September 2016 wurde die besagte Motion formuliert. Die Zielsetzung hatte sich seit 1999, dem Beginn des schriftlichen «Pissoir-Kampfes», verschoben: Es ging jetzt nicht nur um das Pissoir und seine Problematik, sondern um die Situation des Antoniergässchens als Ganzes. Man würde unter Umständen sogar dem Ausbau zu einer WC-Anlage für Männlein und Weiblein, inklusive Spülung und Brünneli, zustimmen. Die Motion wurde im Februar 2017 vom Gemeinderat «für erheblich» erklärt und mit dieser Empfehlung an den Stadtrat überwiesen.

600 Jahre Rathaus ohne neues Antoniergässchen

Zur 600-Jahrfeier des Rathauses bereiteten sich die PostgässlerInnen auf ein grosses Fest vor und nahmen dies zum Anlass, den Behörden einmal mehr ihr Anliegen schmackhaft zu machen: Wie schön wäre es doch, das Antoniergässchen würde zum Fest im September 2017 neu saniert daherkommen! Leider aber erreichten weder die Mittelalter-Festlichkeiten ihre Gasse noch ihr Anliegen das Gehör der Stadt – und die Gelegenheit verstrich ungenutzt.
Patrik Wyss überbrachte den enttäuschten Anwohnern die Absage des Stadtingenieurs, der seinerseits einen neuen Termin in Aussicht stellte: Spätestens 2019 – mit der geplanten Gesamtsanierung der Postgasse – solle das Gässchen aufgewertet sein, vielleicht sogar mit der gewünschten Pflästerung. Danach hörte man nichts mehr vom Pissoir, doch es gärte weiter, nicht nur in der Gasse selbst, auch bei den Anwohnenden. Erst die für Ende 2019 geplante Gesamtsanierung der Postgasse brachte wieder Bewegung in die Sache. Das Antoniergässchen wurde Teil dieses grösseren Plans. 

Das schnelle Ende

Ab Ende Februar 2020 hatte «Corona» das öffentliche Leben Berns fest im Griff. Inmitten all der zahlreichen Infos zu Schutzmassnahmen erreichte im März auch ein offizieller Info-Flyer zur «Sanierung der Werkleitungen und der Trafostation im Bereich Antoniergässchen sowie dem Rückbau des Pissoirs von März bis Juli 2020» die BewohnerInnen der Unteren Altstadt.

Nun sollte das Pissoir also doch abgerissen werden! Und wie ein gütiger Zufall es wollte, war die BrunneZytig am 27. Februar 2020 ganz in der Nähe, als zwei Bauarbeiter der Stadt damit begannen, das Pissoir zu demolieren.

Innerhalb eines einzigen Tages war alles herausgerissen und zugmauert.

So erlebte das Pissoir – unbemerkt von der Öffentlichkeit – seinen ganz eigenen, endgültigen Lockdown. Die grosse Leitungssanierung in der Postgasse hingegen darf frühestens 2023 erwartet werden.

Autorin: Zahai Bürgi
Quelle: BrunneZytig 3/2020