Vom Zeichnen und Zeit einteilen

von Rahel Schaad 6. Oktober 2020

Ein Portrait über die Berner Illustratorin Nora Ryser

Nora Ryser begrüsst mich am Donnerstagmorgen in ihrer Dachwohnung in der Berner Altstadt. Vom Schlafzimmer tritt man heraus auf eine kleine Terrasse, umrundet vom Ziegelmeer der umliegenden Häuser. Wir schauen in Richtung Münsterspitze und blinzeln noch etwas müde in die Morgensonne. Als sie vor einem Jahr einen neuen Atelierplatz suchte, hat sie der Vermieter ihrer Wohnung gefragt, ob sie etwas Grösseres suche, die Dachwohnung des Hauses würde nämlich frei werden. Ryser liess sich die Wohnung zeigen und wusste, sie musste es irgendwie hinkriegen, sich diese Wohnung finanzieren zu können. Zwei Monate später zog sie aus der Einzimmerwohnung einen Stock weiter unten in die helle, malerische Dreizimmerwohnung, wo sie heute wohnt und arbeitet.  

Der Vorteil vom Naivsein

Seit vier Jahren arbeitet Ryser als freie Illustratorin. Als sie sich selbständig machte, war sie gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt. Direkt nach ihrem Studium in wissenschaftlichem Zeichnen, liess sie sich offiziell in das Handelsregister eintragen und musste alles lernen, was die Selbständigkeit mit sich bringt: Beitritt in eine Ausgleichskasse, Einzahlung der AHV-Beiträge, Abschliessen einer Unfallversicherung etc. Das Umfeld reagierte mit Bewunderung auf ihren Mut, doch für Ryser hatte sich das nie mutig angefühlt: «Für mich war einfach klar, dass ich das wollte und somit machte. Es gab keinen Plan B.» Dass sie noch sehr jung war, sieht sie im Nachhinein als Vorteil. «Wenn ich damals gewusst hätte, was ich alles organisieren, einzahlen und überlegen muss, wäre ich wohl mit viel mehr Hemmungen an die Sache herangegangen. Die Naivität ist mir eigentlich zugutegekommen.»

Bereut hat Ryser den Schritt nie. Die selbständige Arbeit bedeutet für sie immer noch die grösste arbeiterische Freiheit und Befriedigung. Vor zwei Jahren wurde sie von einer Agentur angefragt, für die sie nun gelegentlich illustriert. Auch die Arbeit im Angestelltenverhältnis bringt Vorteile mit sich. So entfällt beispielsweise ein grosser Teil des Organisationsaufwands, da die Agentur den Kontakt mit den Kund*innen übernimmt. Zudem wird jede tatsächliche Arbeitsstunde auch bezahlt. Gerade der Kontakt und die Auseinandersetzung mit ihren Kund*innen sind es aber, worauf Ryser in ihrer selbständigen Arbeit viel Wert legt.

Kaffee und Tauschhandel

Wenn sie eine Anfrage erreicht, trifft sie sich mit den Kund*innen erstmal auf einen Kaffee. Die menschliche Begegnung sei meistens sehr wichtig um herauszuspüren, was die Leute genau wollten und welche Vorstellungen sie vom Endprodukt hätten. Wenn die Chemie stimmt, werden Eckpunkte vereinbart: Welche Produkte sollen entstehen, wie hoch ist das Budget und was ist der zeitliche Rahmen?

«Am Schönsten ist es, wenn jemand mit einer tollen Projektidee kommt und ich ein Teil davon werden kann,» schwärmt Ryser. «Dann denke ich: So cool, dass es diese Sache gibt» – und die Illustrationen werden zu einer eigenen Herzensangelegenheit. Schon öfter haben sich aus Aufträgen längerfristige Kooperationen oder Tauschhandel ergeben. Seit sie die Neujahrskarte für eine Arbeitspsychologin gestaltet hat, die Coachings rund um die Arbeitswelt anbietet, besuchte Ryser beispielsweise schon zweimal selbst ein Coaching bei ihr. Und wenn Rysers Fahrrad kaputt ist, bringt sie es in das Geschäft des Velomechanikers, für den sie Logo, Visitenkarte und Fensterbeschriftung designt hat. Vor einiger Zeit hat Ryser mit sich selbst abgemacht, dass sie nicht mehr gratis arbeitet. «Aber es muss nicht immer ausschliesslich Geld zum Tausch angeboten werden.»

Bücher und Politik

Am liebsten illustriert Ryser Bücher. «Jedes Medium hat seine eigene Logik», führt Ryser aus. Eine Website funktioniere ganz anders als ein Buch und ein Buch ganz anders als ein Plakat. «Die Doppelseiten bei Büchern, das Konzept des Umblätterns und was mit dem Auge im Übergang jeweils passiert, solche Überlegungen interessieren mich.» Ja, Bücher, das sei schon von klein auf «ein Ding» in ihrem Leben gewesen, so Ryser. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit im Studium hat sie ein von A bis Z selbst konzipiertes Veloflickbuch herausgegeben. So etwas würde sie gerne wieder machen. Doch die Bücherwelt sei – «wenn man nicht gerade Oliver Jeffers heisst» – eine Branche mit wenig Mitteln und die Realisierung eines eigenen Buchprojekts daher ein Luxus, den sie sich ohne den Rahmen des Studiums kaum leisten könne.

Neben ihrer Leidenschaft für Bücher finden sich in Rysers Arbeiten auffallend viele Aufträge für politische Projekte. «Wenn du dich selbständig machst, spielt es eine grosse Rolle, in was für einem Netzwerk du dich bewegst», meint Ryser. Ihre Freizeit hat sie seit der Jugend immer in politischen Kontexten verbracht, also führten auch viele Kontakte in das aktivistische Umfeld; oder eigentlich umgekehrt. Früher war sie selbst oft in der Reitschule aktiv, hat für das Megafon gezeichnet und auch eine Zeitlang in der Reitschul-WG gewohnt. «Lange war es für mich sehr wichtig, aktivistisch zu sein.» Dieses Bedürfnis habe sich in den letzten Jahren etwas gelegt. Das liege vor allem am enormen Energieaufwand, der für politische Projekte benötigt werde. «Mit vierzehn war ich so getrieben, dass ich diese Energie auch hatte.» Aber die Energie blieb nicht. Oder musste für anderes eingesetzt werden – mit dem Älterwerden gab es mehr Eigenverantwortung zu tragen, das Leben musste selbst finanziert und das selbständige Arbeiten organisiert und erledigt werden. So hat sich das Politische in ihrem Leben vermehrt in den Alltag und in ihre Arbeit verschoben.

«Als Vierzehnjährige würde ich mich wohl für diesen Rückzug verachten», lacht Ryser und spricht im nächsten Satz voller Freude die kürzliche Bundesplatz-Besetzung der Klimabewegung an. Zutiefst beeindruckt habe sie die Aktion. «Wenn so etwas Schönes passiert, logisch gehe ich da hin», sagt sie und schwärmt von der Willensstärke, der Organisation und der Konsenspolitik, die sie bei ihrem Besuch auf dem Platz gespürt und die sie berührt haben. «Seelenbalsam» für die ruhigere aber noch immer politische Seele.

Zukunftspläne

Ich schaue auf die Uhr und bemerke, dass seit meinem Kommen schon fast zwei Stunden verstrichen sind. Zwei Stunden vom einzigen Tag in der Woche, der Ryser neben dem Wochenende noch bleibt, um im eigenen Atelier zu arbeiten. Seit sie im September einen Master in Art Education angefangen hat, ist die Zeit für die selbständige Arbeit als Illustratorin noch knapper geworden. Doch die zweijährige Ausbildung ist erforderlich für Rysers neuen Plan, zukünftig als Kunstlehrerin arbeiten zu können. Eine zweiwöchige Stellvertretung für Kunstunterricht an einem Gymnasium letzten Frühling hat sie nach eigenen Worten regelrecht «beflügelt». Dass die Position als Lehrperson sie begeistern würde, hätte sie zuvor nicht gedacht. Doch das Erklären und Wissensvermitteln machte ihr nicht nur Spass, es funktionierte auch gut: «Ich stand da vorne und die Jugendlichen waren daran interessiert was ich erzähle. Und als es nach der ersten auch in den beiden folgenden Klassen so gut klappte, musste ich mir eingestehen, dass mir das wohl irgendwie liegt.»

Als Gesprächsgegenüber kann man sich das gut vorstellen. Die spontane aber sichere Art, wie Ryser auf Fragen antwortet, und die klare Haltung, mit der sie ihre Standpunkte kundtut, lassen das Zuhören nie langweilig werden. Das Gespräch hätte sich locker noch um eine Stunde weiterführen lassen, doch wir beide wissen, dass im Atelier die Aufträge auf Ryser warten. Die Sonne ist am Himmel mittlerweile höher gewandert und bestrahlt die Terrasse mit fast sommerlicher Wärme.