Die Elektroschock-Renaissance

von Fredi Lerch 4. Oktober 2019

Elektroschock? Ist das nicht ein längst abgeschlossenes Kapitel der Geschichte der Psychiatrie? Nein, als «Elektrokonvulsionstherapie» (EKT) ist er in den letzten Jahren in die Kliniken zurückgekehrt. Warum? – Ein Gespräch mit zwei Fachleuten.

Am 4. und 5. Oktober findet im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) ein Workshop zum Thema Elektrokonvulsionstherapie (EKT) statt. Dieses internationale Treffen von Fachleuten steht unter dem Motto «80 Jahre EKT in der Schweiz». Tatsächlich hat die Heil- und Pflegeanstalt Münsingen die Elektroschockbehandlung Ende Oktober 1939 eingeführt – als eine der ersten Institutionen weltweit ausserhalb von Italien, wo seit April 1938 mit Elektroschocks experimentiert worden ist.

Im Auftrag des PZM hat zu diesem Anlass der Journal B-Mitarbeiter Fredi Lerch ein Buch verfasst mit dem Titel «Therapeutischer Wille unter Strom. Die Geschichte des Elektroschocks in der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen». Auf der Basis von historischen Darstellungen und zeitgenössischer Fachliteratur, des Nachlasses des damaligen Anstaltsdirektors Max Müller sowie «Sondierbohrungen» im sehr umfangreichen Krankengeschichten-Archiv stellt das Buch den Münsinger Elektroschockalltag zwischen 1939 und 1988 dar. 

Unter anderem wegen der öffentlichen Kritik wurde die Behandlungsform seit den 1970er Jahren immer seltener, in Münsingen schliesslich 29 Jahre lang überhaupt nicht mehr angewendet. Statt eines Nachworts bringt das Buch ein Gespräch mit dem Chefarzt Christian Kämpf und der Oberärztin Claudia Jöstingmeier. Die beiden gehören zum Team, das im PZM seit September 2017 vor allem im Bereich der Depressionsbehandlungen wieder mit EKT arbeitet. Journal B dokumentiert Passagen aus diesem Gespräch. (Red.)

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Fredi Lerch: Ende der 1970er-Jahre schrieb der US-amerikanische Psychiater Peter Breggin das Buch «Elektroschock ist keine Therapie». 1994 schrieb Jean-Pierre Pauchard als Klinikdirektor in Münsingen in der «Hauszeitung», die Wiedereinführung der EKT sei nicht möglich wegen «massiver Vorurteile und Desinformation» in der Öffentlichkeit. Was war 2017 anders?

Claudia Jöstingmeier (CJ): Von uns her gab es die Überzeugung, dass die Wiedereinführung der EKT hier in der Klinik eine gute Sache wäre. 

Christian Kämpf (CK): Zuvor haben wir pro Jahr ungefähr vier Patienten zur EKT-Behandlung ins Inselspital oder in die Privatklinik Meiringen geschickt. Dabei machten wir die Erfahrung, dass EKT eine Methode ist, die vielen Patienten hilft.

CJ: Aber diese externe Lösung war so kompliziert, dass nicht selten der therapeutische Effekt verloren ging. Damit wir Rahmen und Ablauf selber gestalten könnten, wollten wir das Angebot hier haben und möglichst flexibel einsetzen können.

Wie sind Sie bei der Wiedereinführung vorgegangen?

CK: Der Vorlauf betrug ein gutes halbes Jahr. Zuerst stellten wir einen Antrag an die Geschäftsleitung des PZM. Dort war dann relativ unumstritten, dass es dieses Angebot braucht in einer Klinik, die sich die Behandlung von Depressionen so gross auf die Fahne geschrieben hat. 

CJ: Danach besuchten wir andere Kliniken, um zu sehen, wie das dort funktioniert. Hier im PZM mussten wir Räume finden und die Geräte anschaffen.

CK: Wir legten vor allem Wert auf freundlich gestaltete Räume mit einer angenehmen Atmosphäre.

Breggins Kritik, EKT wirke nicht, weil sie bessere, sondern weil sie Hirnzellen zum Teil irreversibel schädige, hat euch in dieser Vorbereitungsphase nicht verunsichert?

CJ: Was diese Schädigungen betrifft, gibt es mittlerweile viele aktuelle Studien, die zeigen, dass es nicht zu einer Zerstörung, sondern im Gegenteil zu einer leichtgradigen Zunahme von Hirnvolumen kommt. 

CK: Es gibt diesen BDNF, den «Brain-Derived Neurotrophic Factor». Das ist ein Hirnzellenwachstumsfaktor, ein Protein, das man noch nicht sehr lange kennt. Dieser Faktor ist dafür verantwortlich, dass Nervenzellen stimuliert oder neu verknüpft werden, also neue Synapsen bilden. Man weiss, dass dieser Faktor bei Depressiven erniedrigt ist und unter EKT ziemlich stark erhöht werden kann. 

Neue Forschungsergebnisse widerlegen demnach Breggins Kritik und sagen: EKT schadet nicht. Noch nicht verstanden habe ich: Was hilft einer depressiven Person ein steigender Hirnzellenwachstumsfaktor?

CJ: Da spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Das Hirnvolumen nimmt zu, es gibt hormonelle Veränderungen, Transmitterveränderungen spielen eine Rolle, gerade bei Depressionen. Nicht sagen kann man, welcher ganz bestimmte Faktor wirkt. Es ist vermutlich das Zusammenspiel von allen. Alles andere sind Hypothesen.

CK: Eine meiner Hypothesen ist die: Wenn jemand in einer Depression steckt, dann laufen die Gedanken immer wieder in gleichen, kreisenden Bewegungen. Hier braucht es eine Art Umlernen, um dieses dysfunktionale Kreisen zu unterbrechen. Ich stelle mir vor, dass dieses Umlernen, dieser Umbau der Hirnstrukturen durch Substanzen wie den BDNF stimuliert werden. 

Bleibt das Imageproblem: Ist der schlechte Ruf von EKT im letzten Vierteljahrhundert einfach verklungen?

CJ: Nein. Vor der Wiedereinführung haben wir überlegt: Wie kommunizieren wir unsere Überzeugung nach aussen? Mit ausführlicher Aufklärung im Gespräch sowie schriftlichen Patienteninformationen versuchen wir heute, das schlechte Image von EKT zu relativieren und so Angst zu nehmen. 

Wie steht es denn seit der Wiedereinführung der EKT-Behandlung mit der Nachfrage?

CJ: Tatsache ist, dass die EKT eine standardisierte Therapie ist und wir – das heisst hier in Münsingen ein sechsköpfiges Ärzteteam – unterdessen an den beiden Behandlungstagen pro Woche bis zu zehn Patienten behandeln, wobei die Tendenz steigend ist. 

CK: Im ersten Behandlungsjahr bis September 2018 kamen wir auf etwas mehr als 400 Behandlungen, im zweiten Jahr sind es nun etwa 600 gewesen.