Besuch bei etwas andern Nachbar*innen

von Anna Stüssi 13. August 2019

Wohnort Viererfeld. Die Wagenleute haben sogar eine Adresse. Aber eine Rechnung bringt der Pöstler selten. Die jungen Leute leben weitgehend autonom, mit Laptop und Hacke, Bohrmaschine und Solarmodul. Am Mittag gibts veganen Eintopf aus Gemüse, das der Grossverteiler aussortiert hat. Bald schon kommen Kohl, Kartoffeln und Bohnen vom eigenen Pflanzblätz dazu.

An einem schönen Junivormittag empfangen uns vier junge Menschen und führen uns mit grosser Freundlichkeit und gesprächig durch ihr Areal der bunten Wagen, die so organisch verteilt sind wie eine Herde, die sich eben niedergelassenen hat. Der Blick schweift über phantasievoll umgerüstete Bauwagen und Camper, streift einen lustigen mehreckigen Holzturm, landet beim Kompost-Klohäuschen – platziert in möglichst grosser Distanz zum Waldrand, wegen gewisser Vorurteile …

Manche Wagen – Wohnraum für jeweils eine Person– haben ihre Tür deutlich geschlossen, andere stehen offen. Ein altes Wohnmobil wird eben ausgeweidet, Kinder, die zu Besuch sind, springen herum, eine Frau schält Gemüse auf der Treppe, eine andere sitzt hinter ihrem Bürotisch am Laptop, wir erhaschen einen Blick auf ein volles Büchergestell, gemütlich gewölbte Holzdecke, Bettnische. Man kreuzt sich auf den kurzen Wegen zwischen den Wagen, hier ein Wort, ein Lachen – friedlich beschäftigte Ruhe. Warum dünkt mich das so besonders? Vielleicht weil, anders als beim üblichen Städtebau, Aussenraum und Innenräume hier in notwendigem Bezug stehen. Das Ensemble atmet, ist angelegt auf das Miteinander von Begegnung und Rückzug. Zudem ist die ‚Überbauung’ nicht statisch, die ‚Immobilien’ stehen auf Rädern, lassen sich den wechselnden Bedürfnissen ständig anpassen, sogar dem Sonnenstand …

Offen zum Quartier

Kein Stress liegt in der Luft, obschon am Nachmittag Besuchstag angesagt ist. Die BewohnerInnen des nahen Burgerspittels wurden vor Ort mit einem Plakat eingeladen. Quartierleben – das sei Nachbarschaft! definiert jemand spontan. Spazierende, die vorbeischauen wollen, sind willkommen, auch Kinder, die es vom Spielplatz aufs noch interessantere Wagen-Areal zieht; mit den FamiliengärtnerInnen tauscht man Setzlinge; die Quartierjugend, die beim Lüftungsschacht abends chillt, kennt man mittlerweile gut. Gleich nebenan sind jetzt auch die städtisch geförderten Zwischennutzungs-Angebote installiert. Der Plastik-Pavillon der «Quartieroase» liegt etwas sonderbar kantig auf der Wiese; freundlicher wirkt die luftige Plattform, betrieben vom Verein Q3012 und vom «Drahtesel», zu dem das Kollektiv einen guten Draht hat. Beide Angebote wirken an diesem Tag ungenutzt. Da kann noch etwas wachsen.

Ob sie auch übers Viererfeld hinaus am Quartier interessiert seien, fragen wir, während wir unter freiem Himmel am Holztisch Kaffee mit Sojamilch trinken. Doch doch, meint einer verschmitzt, nach der Lektüre des Länggassblattes, das wir im Winter vorbeigebracht hätten, habe er sofort alle seine Schuhe zusammengerafft und zur «Schuhmacherin» an der Neufeldstrasse geschleppt! Und natürlich gehe man manchmal im Quartier einkaufen, weil sich ja nicht der ganze Bedarf aus dem Ausschuss der Konsumwelt decken lasse. Auswärts essen? Warum nicht, die Tele-Pizzeria, die Pittaria wird erwähnt. Und natürlich: „Glace”! Doch nicht alle mögen die bekannte Firma loben.

Teilen, tauschen, bauen

Wer hier wohnt, kommt aus verschiedenen Ecken, manche aus andern, ähnlichen Projekten. Sympathie und die verbindende Vision eines autonomen, selbstverwalteten Lebens in möglichst autarken Wiederverwertungs-Kreisläufen hat sie zusammengeführt. Die Lohnarbeit wird möglichst reduziert, zugunsten produktiver Arbeit für das gemeinsame Leben. Gefaulenzt wird hier nicht, das ist offensichtlich. Ein Teil des Wagenplatzes ist denn auch Werkplatz. Es wird gesägt und geschweisst, Recyclingholz wird bearbeitet. Ein Bewegungsraum ist im Bau, ebenso ein Gemeinschaftshaus, erstellt auf dem Fundament dreier Bauwagen. Wir bewundern die fachkundige Zimmereiarbeit. Das Holz stamme von abgerissenen Buden saisonaler Events.

Da die Wagenleute mal hier mal dort arbeiten oder aushelfen, wächst das Wissen, wann und wo wiederverwertbares Material abfällt. Mit ähnlich ausgerichteten Kollektiven steht man im Austausch, besucht einander, teilt Geräte, es gibt ein Geflecht der Unterstützung und des gegenseitigen Lernens, auch dank alternativer Kanäle.

Trotz zufriedenem Grundton ist im Gespräch bisweilen eine gewisse Zurückhaltung spürbar, Angst flackert kurz auf. Verständlich. Manche haben die Erfahrung der Repression gemacht, kennen das plötzliche Auftauchen der staatlichen Ordnungskräfte, wie das etwa bei Hausbesetzungen leider immer noch der Fall ist. Die Schliessung des Fabrikools zum Beispiel wird bedauert – im Quartier der einzige Treffpunkt ohne Konsumzwang, wo sich Alt und Jung und Kinder bunt mischten.

Wald, Sonne, Solarmodul und Wasser

Doch lassen wir die heiklen Reibungszonen und kehren zurück zur «Frischluft». Dies Wort fällt spontan, als wir nach dem Unterschied zum Wohnen in einer ‚normalen’ Wohnung fragen. Aus dem Zimmer direkt auf die Weide, auf die Allmend sozusagen. Wie in den Zeltferien … Das Gras ist heute frisch gemäht, wegen der Zecken. Wir blicken zum Waldrand, wo die Vögel leben. Die Nachtigall habe im Mai jede Nacht gesungen. Wie ist es nur möglich, als Anwohnerin sowas zu verpassen? klage ich, und werde sogleich getröstet, man sende mir nächstes Frühjahr, wenn es soweit sei, eine SMS. Auch vom Rotschwänzchen berichtet einer, das unter einem Wagendach sein Nest gebaut habe. Doch bitte fernbleiben sollen die Schnecken, jetzt wo man ein Stück verdichtetes Ackerland umgegraben und von den zähen Graswurzeln mühsam befreit habe. Ein fürsorglicher Blick streift über die jungen Kartoffel- und Kohlrabi-Stauden. Die Bohnenstangen-Laube ist eine Zier, ebenso das elegante Tomaten-Langhaus – aber hinter der Ästhetik, das ist mir klar, steckt viel Arbeit. Hier geschieht mehr als ‚urban gardening’.

Ein Aushängeschild – fast im wörtlichen Sinn – für die Selbstversorgung ist das grosse Solar-Modul in Richtung Süden. Es reicht für die gemeinsame Stromversorgung. Für den privaten Verbrauch von Handys und Laptops sind manche Wagen noch zusätzlich mit einem Kollektor ausgerüstet.

Und was ist mit den Milchkannen, die schief aneinander gelehnt im Gras stehen? Ihr lebt doch vegan? frage ich. Das ist der Wasservorrat! Mit dem Anhänger geht man zum nächsten Hydranten, schraubt einen Zähler der Stadt an und füllt die Kannen. Danach einen Tank unter dem Waschbecken füllen, durch einen lila Schlauch hochpumpen … fertig ist der Küchenkomfort.

Anblick und Ausblick

Für Aussenstehende ist die Sorgfalt im Umgang mit der Natur, mit Materialien und Ressourcen ein wohltuender Anblick. Die selbstverständliche Art, eine etwas andere Lebensform in den Raum zu stellen, diese zu schützen und doch partiell daran teilhaben zu lassen, stösst bei den Passantinnen und Anwohnern auf Gegenliebe. Als ich einen Vergleich mit den «Stadtnomaden» mache, die früher diese Ecke bewohnten, und die streunenden Hunde erwähne, lehnen die Wagenleute den abwertenden Unterton ab. Im Gespräch allgegenwärtig ist Respekt für Andersdenkende. Auch unter sich funktioniere man keineswegs als Sekte, wird präzisiert, neben der Grundwelle der gemeinsamen Werte sei individuelle Freiheit wichtig, alle könnten für sich entscheiden, wie strikt vegan sie leben wollten, zum Beispiel, oder welchen Interessen sie nachgehen möchten.

Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft? fragen wir am Schluss.
«Nichts anderes als wie es ist.» «Dass es so bleibt.» «Dass uns Lob oder Kritik direkt gesagt wird.»
Dann ein gemeinsames Auflachen: «Einen Pool und einen Badestrand!»

 

Autorin: Anna Stüssi
Quelle: Länggassblatt Juli 2019