Die Strassen- und Hausnummern-Cracks

von Rita Jost 19. Juli 2019

Man glaubt sie ja zu kennen, die Frauen und Männer, die uns tagtäglich die Post bringen. Sie kurven bei Wind und Wetter mit ihren schnellen Fahrzeugen um die Häuserecken und stehen oft auf Kriegsfuss mit den Hunden. Und sicher haben Pöstler auch ein gutes Gedächnis. Aber da ist noch mehr…

Es ist 15 Uhr, das Thermometer zeigt 35 Grad. Marcel Hofstetter, seit 26 Jahren bei der Post, und Renate Salvisberg, seit 4 Jahren dabei, haben Fiirabe. Wir haben uns in den Garten des Du Nord gesetzt. Ich möchte wissen, ob es für Pösteler beliebte und weniger beliebte Strassen gibt. Die beiden schmunzeln «Für mich gibt es das eigentlich nicht», sagt Renate Salvisberg, die Quereinsteigerin, die früher Lokführerin war. Sie liebe die Abwechslung, nur keine Monotonie, keine 08/15-Touren. Und ihr Chef, Marcel Hofstetter, Teamleiter im Zustellkreis 1 (Lorraine, Breitenrein, Schosshalde, Obstberg, Galgenfeld, Burgfeld, Schermenweg) sinniert, es müsse einem wohl einfach liegen, das Postaustragen, er habe es halt schon als Bub gerne gemacht. Und klar, wenn man ein gutes Gedächnis habe, sei das der coolste Job, den es gebe. (Wir einigen uns übrigens auf die Berufsbezeichung «Pösteler», ganz korrekt ist das nicht, aber «da weiss jede, was gmeint isch», meint Marcel Hofstetter).

Fantasiebriefkästen und Confizeddeli

Und was genau ist so cool am Vertragen von Briefen, Kleinpäckli, Zeitungen und Werbung? Und vor allem: was ist so toll an ihrem Zustellkreis? «Wir haben hier einfach alles: wir haben Sozialwohnungen, Büros, die Gewerbeschulen, der Botanische Garten, dann das Rabbental mit seinen Villen, den langen Treppen und den verschlungenen Gartewägli. Aber auch die grossen Strassen mit extrem vielen Haushalten». «Und», wirft Renate Salvisberg ein, «wir haben auch den Hauseingang mit der längsten Briefkastenreihe: Viktoriastrasse 69.» «Und es gibt sogar eine Strasse ohne einen einzigen Hauseingang bzw. Briefkasten: die Keplerstrasse.» Man hört den beiden zu und stellt fest: Pösteler haben den Stadtplan zwischen den Ohren, sie kennen eine Stadt quasi strassen- und hausnummernweise.

Auf insgesamt elf Touren setzt Marcel Hofstetter seine Leute ein. Die Pöstlerinnen (es sind unterdessen mehr Frauen in seinem Team!) werden auf immer wieder auf anderen Routen eingesetzt. Einige möchten möglichst stets den gleichen Cher. Andere, wie Renate Salvisberg, lieben die Abwechslung. Sie «kann» sechs Bezirke. Das sei spannend.

Was sind denn beliebte Chere? Da müssen die beiden nicht langes studieren. «Beliebt sind gute, das heisst: liegende Briefkästen.» Da geht der Einwurf rasch. Man klemmt sich die Finger nicht ein. Unbeliebt sind alte Modelle und Fantasiekästen. Unbeliebt sind auch Confizeddeli. Hä?? Marcel Hofstetter erklärt: «Einige unserer Kunden kleben einfach irgendwo auf einem Papierfetzen den Namen von einem Untermieter an den Kasten. Oft kann man es kaum lesen, das erschwert unsere Arbeit enorm.» Er empfinde das als fehlende Wertschätzung gegenüber dem Pösteler. Denn das bedeute unnötige Mehrarbeit.

Unbeliebt sind auch unlogische Hausnummerierungen – wie sie oft in etappenweise erbauten Quartieren anzutreffen sind – («da muss man immer wieder hinten anfangen») und verwirrlich sind auch fast gleich tönende Strassennamen im gleichen Kreis. Der Weissweg im neuen Quartier Schönberg-Ost beispielsweise trifft praktisch genau auf den Wyssweg im angrenzenden Obstbergquartier. Da sind Verwechslungen vorprogrammiert.

Vorsortierer und Elefantengedächnisse

Wie ist es denn mit unleserlich oder falsch geschriebenen Adressen auf Ferienpostkarten? Das muss doch auch recht mühsam sein. Kopfschütteln bei meinen Gesprächspartnern. Die maschinelle Vorsortierung leiste da gute Vorarbeit. Der Rest sei gespeichertes Wissen. «Viele Pösteler haben ein Elefantenhirni», lacht Hofstetter. Wenn sie am Morgen vor dem Gang zu den Kunden ihre Post feinsortieren, dh. in die je nach Tour zwischen 160 und 215 Fächli nach Häusern und Blöcken einreihen, dann merken die Guten unter ihnen, wenn eine Adresse nicht stimmen kann. «Die sehen die Häuser praktisch fotografiert vor sich», erklärt Hofstetter, «ich weiss nach all den Jahren beispielsweise genau, wer wo wohnt. Und aufgrund des Namens kann ich schon zum voraus die Hausnummer korrigieren.» Und er registriere auch jeden Umzug und jeden Zuzug sofort. Pösteler sind Adressen- und Hausnummerncracks. Dann müssten sie eigentlich auch exzellente Jasser sein. Fehlanzeige: jassen sei gar nicht ihr Ding, sagen beide.

Weihnachtsgeschenke und Umarmungen

Man beginnt es zu ahnen: Pöstelerinnen kennen uns besser als wir Kundinnen es ahnen. Sie wissen genau, wo die «digital natives» wohnen (da gibt es wenig auszutragen, weil diese nahezu papierlos leben) und wo die Sozialfälle (da flattert ab und zu ein eingeschriebener Brief ins Haus), wo die Leseratten (mit zwei/drei Tageszeitungen, dafür Werbe-Stop-Kleber), wo Promis, wo die Ausländer mit den komplizierten, oft fast identisch klingenden Namen, und – klar! – sie wissen auch, wo die bissigen Hunde zu Hause sind, und wo die Rentner, die morgens sehnlichst den Pösteler erwarten (und an Weihnachten manchmal sogar ein Päckli für ihn parat haben).

Im Kreis 1 gibt’s alles. Da sei auch schon mal ein Kunde auf einen Pösteler losgegangen weil dieser ihn morgens um 10.00 geweckt habe, aber er selber habe nie etwas Negatives erlebt, sagt Hofstetter. Im Gegenteil: Ihm sei einmal ein Ausländer, dem er einen Einschreibebrief öffnen, vorlesen und übersetzen musste, gleich stürmisch um den Hals gefallen. Der Brief enthielt nämlich die positive Antwort auf seinen Asylantrag.

Und warum würden mich Hofstetter und Salvisberg an der Lorrainestrasse einsetzen, wenn ich als Neuling zur Post käme. «Da sieht man gleich, ob sies können oder nicht.»