Die Flucht des Turners im Opel Manta

von Urs Frieden 29. März 2016

Die bevorstehende Kunstturn-Europameisterschaft in Bern bringt Erinnerungen an die letzte Austragung in der Bundesstadt im Jahre 1975: an die Flucht des DDR-Turners Wolfgang Thüne.

Die Schweizer Titelverteidigerin Giulia Steingruber macht schon jetzt überall Werbung für die Turn-Europameisterschaften und turnt fröhlich für PassengerTV in einem RBS-Bus herum (siehe Bild). Der Grossevent wird vom 25. Mai bis 5. Juni in der Berner PostFinance-Arena abgehalten. Was sich heute so spielerisch ankündet, stand vor 41 Jahren, als die EM ebenfalls in Bern stattfand, im Zeichen des Kalten Krieges.

1975 hiess die PostFinance-Arena noch bieder Allmendstadion. In Erinnerung an diese EM ist mir nicht der sportliche Wettkampf geblieben, sondern die Flucht des damaligen DDR-Turnstars Wolfgang Thüne, damals 26 und amtierender Vize-Weltmeister am Reck. Thüne, der – wie viele DDR-Sportler – Offizier der Nationalen Volksarmee war, türmte während der EM-Abschlussfeier am 2. Juni 1975. Seine Reise führte von der Berner Allmend in die BRD, nach Emmendingen und später nach Leverkusen. Die Fluchtumstände blieben 24 Jahre im Dunkeln. Bis sich ausgerechnet sein damals grösster Konkurrent aus der BRD, Reckweltmeister Eberhard Gienger, als Fluchthelfer outete.

In Basel wird nicht geschossen

Gienger wurde in Bern Reck-Europameister und Zweiter im Mehrkampf, während Thüne in beiden Disziplinen völlig versagte und deshalb Repressalien in der DDR befürchten musste. In einer Toilette des Allmendstadions diskutierten beide die Flucht, die später Gienger in einem Buch und Sportjournalist Jörg Palitsch nachzeichneten. Gienger, der wegen eines gemeinsamen Hobbys (Münzensammeln) mit Thüne befreundet war, stellte ohne grosse Umschweife seinen Opel Manta zur Verfügung.

Die beiden fuhren zuerst in Thünes Hotel, wo er seine Habseligkeiten aus dem Fenster warf, darauf zügig aus dem Hotel schritt, das Bündel aufhob und zum Opel eilte. Im Wagen sassen nebst Chauffeur Gienger ein BRD-Offizieller, ein Masseur und Giengers Freundin Sibylle, heute seine Frau. Vor Basel bekam es Thüne mit der Angst zu tun. Gienger musste ihm versichern, dass an dieser Grenze nicht geschossen würde.

24 Jahre dicht gehalten

Am Zoll wurden sie kontrolliert. Obwohl ein Pass fehlte, drückten die Beamten beide Augen zu – offenbar, weil die fünf Insassen eine lustige Reisegesellschaft mimten. Nachdem Thüne in Emmendingen abgesetzt wurde, fuhr Gienger sofort an die Abschlussfeier in Bern zurück, damit kein Verdacht auf ihn fiel. Danach wurde die Legende gestrickt, Thüne sei mit Autostopp geflohen.

Alle Mitwissenden, insgesamt 15 Personen, hielten 24 Jahre dicht. Selbst in Giengers Stasi-Akte, die er nach dem Mauerfall 1989 einsehen konnte, fand sich kein Hinweis auf die Beihilfe zur spektakulären Flucht aus Bern, die das Regime stark beschäftigte: Thüne wurde von einem DDR-Militärgericht in Abwesenheit zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt.

Die beiden Sportler haben bis heute guten Kontakt und treten auch bei Veranstaltungen zum DDR-Unrecht im Sport auf. Thüne wirkte noch jahrelang als Trainer in Leverkusen. Gienger ist inzwischen Bundestagsabgeordneter der CDU und zudem im Fraktionsvorstand von Angela Merkels Partei. Das Thema Flucht lässt ihn deshalb bis heute nicht los, wenn auch in einem anderen Sinn.