Eine einzigartige Fotografie

von Markus Schürpf 22. Februar 2016

Früher wurde viel weniger fotografiert als heute. Von Vergangenem gibt es deshalb wenig Abbildungen. Entsprechend kostbar sind alte Fotos für unser Wissen über früher. Markus Schürpf zeigt, was solche Bilder uns bedeuten können.

Carl Daut (1819 bis 1890)
«15. Januar 1867», Ansicht von Burgdorf von der Nordostseite
Albuminabzug, beschriftet und signiert, 1867
Sammlung Rittersaalverein, Burgdorf

Über die verschneiten Gärten und Dächer der Unterstadt hinweg geht der Blick Richtung Oberstadt und Kirche. Links sind die Rückseiten der Häuser an der Hohengasse mit ihren prägnanten Lauben zu sehen, rechts thront die Kirche eingerahmt vom Pfarrhaus und dem Zunfthaus zu Schmieden und Zimmerleuten.

Wie häufig bei Schnee- und Winteraufnahmen strahlt auch diese eine faszinierende Stille und Ruhe aus. Vielleicht liegt dies daran, dass die weissen Dachflächen die Grau- und Schwarzwerte der Fassaden nur noch besser hervortreten lassen, oder auch einfach an der wunderbaren Stimmung. Vielleicht sind es aber auch die eigenen Erinnerungen an den Zauber selbst erlebter Wintertage.

Unmerkliche Details

Klar und deutlich sind die Baukörper zu erkennen, das Wechselspiel der Volumen und Flächen, das reizvolle Relief der Dächer und der vor- und rückspringenden Häuserzeilen. Dazu kommen all die Einzelheiten, die erst beim genaueren Hinsehen sichtbar werden: Am Fachwerkhaus vorne links – damals vermutlich noch jüngeren Datums – nebst der lebendigen Zeichnung des Holzriegels, die feinen Laubsägefriese, die wie Gesimse den Wechsel zum nächsten Stockwerk markieren, die wohlproportionierten Fenster mit den geschweift hängenden Vorhängen dahinter und an einem Ort ein geöffnetes kleines Flügelfensterchen.

Sonst menschenleer bekommt die Fotografie gerade dank solch unmerklichen Details Leben eingehaucht, wie etwa auch bei den Lauben der Neuengasshäuser wo gleich an mehreren Stellen Wäsche hängt. Wie sich ältere Menschen vielleicht noch erinnern, war diese, sozusagen gefriergetrocknet, weicher als in den wärmeren Jahreszeiten. Rauch hingegen, der mit Bestimmtheit aus den Kaminen stieg und sich über den Dächern verzog, ist nicht zu sehen.

Zufällig zur Fotografie gefunden

Carl Daut, 1819 in Grindelwald geboren, kam 1836 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Burgdorf und ergriff wie sein Vater den Schreinerberuf. Wohnhaus und Werkstatt, wo er Möbel und Rahmen herstellte und verkaufte, befanden sich in der Nähe des Schützenhauses an der Wynigenstrasse.
Die Idee, es mit der Fotografie zu versuchen, mag purer Zufall gewesen sein. 1864 erstellte der junge Arnold Meyer im Garten von Dauts Haus ein Glasatelier und begann am 1. Mai mit Fotografieren. Bereits im November war es allerdings Daut, der an diesem Standort seine Dienste als Fotograf anbot. Meyer, so weiss man, verstarb drei Jahre später im Alter von nur gerade 25 Jahren, ohne dass er noch einmal als Fotograf in Erscheinung getreten wäre.

Anfänglich betrieb Carl Daut Schreinerei und Fotoatelier parallel. Ein paar Jahre später jedoch liess er per Zeitunsanzeige verlauten, dass er seine Schreinerei verkauft habe, nur noch vorrätige Möbel verkaufe und sich sonst auf die Fotografie konzentriere.

Wie für alle seine Berufskollegen bestand die Tätigkeit hauptsächlich aus der Herstellung und dem Verkauf von «Cartes de visite», diesen normierten Kartonkärtchen mit aufgeklebten Albuminabzügen, vornehmlich kleinen Porträts oder hin und wieder auch Gruppenaufnahmen.

Negative selber herstellen

Die Kamera, die er verwendete, hatte er möglicherweise selber gebaut, genauso, wie er auch selber für die Herstellung der Negative schauen musste. Beim nassen Kollodiumverfahren, das noch bis in die 1880er-Jahre üblich war, gossen die Fotografen unmittelbar vor der Aufnahme die flüssige, fotosensible Kollodiumschicht über die Glasplatte und steckten diese noch klebrig in die Kamera. Unmittelbar nachher mussten sie die Negative entwickeln und fixieren.

Ausserhalb des Ateliers gehörte daher stets ein lichtdichtes Gehäuse oder ein Zelt zur Ausrüstung, die ein beträchtliches Gewicht hatte. Ein anderes Merkmal des Verfahrens waren Belichtungszeiten von mehreren Sekunden. Bewegte Objekte und Phänomene erscheinen deshalb oft unscharf oder verwischt – wie etwa Wasseroberflächen – oder sie bilden sich gar nicht erst ab, wie bei Dauts Fotografie der Rauch über den Kaminen.

Eine rätselhafte Aufnahme

Die meisten Fotos, die von Carl Daut überliefert sind, sind Personenaufnahmen. Nur einige wenige hat er im Freien gemacht, etwa bei den Lösch- und Aufräumarbeiten nach der Brandkatastrophe im Juli 1865, die er als kleine Visitkärtchen wohl gleich mehrfach verkaufen konnte.

Weshalb er sich an besagtem 15. Januar zwei Jahre später die Mühe nahm, seine Kamera nach draussen zu bringen, noch dazu bei winterlicher Kälte, ist ebenso rätselhaft, wie die Art und Weise, wie er den Abzug präsentiert. Fotografien zu signieren und zu datieren war zu jener Zeit, noch dazu in der Schweiz, unüblich. Auch der achteckige Zuschnitt und die schwarze Konturierung sind ungewohnt und mahnen an frühe Daguerreotypien, die in Passepartouts mit abgeschrägten Ecken gefasst wurden.

Empfand er selber das Blatt als dermassen gelungen oder sogar ästhetisch wertvoll, dass er es wie ein Künstler kennzeichnete? Am Datum kann es nicht gelegen haben: Für den Januar 1867 gibt es weder für Burgdorf noch die Schweiz spezielle Vorkommnisse zu verzeichnen, kommt dazu, dass der 15. des Monats ein prosaischer Mittwoch war.

Zifferblätter fehlen noch

War es bloss die Ruhe und Stille, die über der Stadt lag, oder spielte auch noch die Erinnerung mit an die Tage der Feuersbrunst und die Erleichterung, dass es mit dem Wiederaufbau nun voran ging? Länger als ein Jahr klaffte auf der Brandstätte in der Oberstadt eine Baulücke, überragt vom Turm, der als einziger Teil der Kirche Feuer gefangen hatte. In der Zwischenzeit waren die ersten Häuser wieder neu errichtet und bewohnt und auch der Turm hatte einen neuen Helm bekommen, eingedeckt mit glasierten Ziegeln.

Wie Dauts Fotografie zeigt, ist der obere Teil des Gerüsts bereits entfernt. Der untere Teil bis auf die Höhe der neu hinzugefügten «steinernen Giebel» am Dachansatz wurde stehen gelassen. Noch fehlten nämlich die grossen Zifferblättern, die in die Giebelfelder montiert werden.

Ähnlich beeindruckende Aufnahmen von Carl Daut datieren vom gleichen Jahr und betreffen die Versetzung des Lettners in der Burgdorfer Stadtkirche. Die restlichen Jahre seiner Karriere hat er – wie seinen Anzeigen in der Zeitung zu entnehmen ist – mit Fotografien von «Gesellschaften, einzelnen Personen sowie von Thieren» zugebracht. Dazu lieferte er die passenden Rahmen und Rähmchen. Nur einem einzigen Tag seiner fotografischen Karriere hat er ein stilles Denkmal gesetzt. Noch bis 1876 fotografierte er weiter. Dann übergab er das Atelier seinem Nachfolger und setzte sich zur Ruhe. 1890 starb er im damals respektablen Alter von 71 Jahren.