Mein 2015: Fredi Lerch

von Fredi Lerch 24. Dezember 2015

Der Blick vom Augstmatthorn wandert einem Postkartenpanorama entlang. Ein Aufruf, das Bisschen zu tun, das einem zu tun möglich ist – also mehr als die meisten tun.

Am 7. November bin ich morgens mit Zug und Postauto nach Habkern gefahren. Von dort ging ich aufwärts über Matten, auf denen Kühe novemberlich grünes Klimawandel-Gras kauten, hinauf zur Lombachalp und weiter die steile Flanke der Brienzer-Rothorn-Kette hoch. Am Mittag stand ich auf dem Augstmatthorn: Postkartenwetter und Postkartenblick. Bloss die legendären Steinböcke hatten sich wegen all der sonnensüchtigen Zweibeiner in die Felsen verzogen.

Für mich war der Moment auf diesem unspektakulären Grashügel mehr als das Ziel einer Herbstwanderung, es war die Erfüllung eines Jugendtraums. Ich bin einer von denen, die die frühen Jahre damit verbrachten, sich zu erträumen, wie sie in der Welt wirken wollen, die auf sie wartet. Der nebensächlichste dieser Träume betraf, seit ich Karten lesen konnte, das Augustmatthorn.

Zur Illusion verdampfen

Wie alle habe ich später gelernt, dass sich Jugendträume realisieren, indem sie zur Illusion verdampfen. Trotz stets leichtem Gepäck führte mein Weg an kein Ziel, sondern auf zunehmend brüchiges Eis. Trotz Musikstudium wurde ich kein Musiker, sondern bloss einer, der genauer weiss als andere, warum er keiner ist.

Und trotz pompösem Gerede gehörte ich nicht zum Stosstrupp jener, die den demokratischen Sozialismus auf der Basis von selbstverwalteten Produktionsgenossenschaften realisierten – mehr als eine kleine Zeitung ists nicht geworden. (Zum Glück engagieren sich andere immer noch für sie.)

Nächste Abfahrt: 16. April 2016

Nach der Gipfelrast ging ich auf dem Grat stundenlang südwestwärts. Ich unterhielt mich mit Lebenden und mit Toten, die mir plaudernd durch den Kopf gingen. Wir hatten es gut zusammen. An der Eingangstür zur Bergstation der Harderbahn klebte ein handgeschriebener Zettel, die nächste Abfahrt sei für den 16. April 2016 vorgesehen. So hatte ich mir das nicht erträumt.

In die mähliche Dämmerung eilte ich bergab Richtung Wilderswil. Hinter dem Interlakner Westbahnhof stand dann majestätisch die Jungfrau im letzten Abendlicht. Die Knie klapperten beträchtlich, das Büchsenbier war sehr erfrischend und der Muskelkater störte bis Mittwoch.

Ich wünsche Dir, dass Du nächstes Jahr Dein Augstmatthorn besteigst. Denn wie man mit der Zeit aufhören sollte zu glauben und gescheiter im Meer des Nichtwissens nach Inseln sucht, so sollte man irgend einmal aufhören zu träumen und das Bisschen tun, das einem zu tun möglich ist.