Wie Berner auf die Welt kommen

von Renato Kaiser 16. Dezember 2015

Renato Kaiser kommt aus St. Gallen und wohnt in Bern. Am Donnerstag spielt er abendfüllend in der Mahogany Hall. Hier schreibt er über den modernen Ablasshandel im Breitenrain und Kinder, auf die er mit Kieselsteinen schiesst.

Manchmal gibt es ja Dinge, die gibt es gar nicht. Da geh ich ganz normal joggen, so wie immer, im Breitenrain gestartet, den Birkenweg runter, rechts in die Wylerstrasse, am Wylereggladen vorbei, kurz reinschauen, klar, die kennen mich da ja mittlerweile. Schliesslich gehe ich dort so oft wie möglich hin und hole mir ein paar getrocknete Apfelringe und so ein gutes Brot, dessen Namen ich nicht aussprechen kann, das aber natürlich viel besser ist als eines aus dem Coop, weil das Brot aus dem Wylereggladen schliesslich von irgendeinem kleinen Bäcker aus dem Viertel stammt, wahrscheinlich. Von einem Bäcker, der sein Getreide noch selber auf der eigenen Dachterasse kultiviert und erntet, in seiner Mansarde trocknet und eigenhändig zwischen zwei alten ledrigen Büchern von ansässigen Berner Mundartdichtern zerreibt, zu Mehl macht und dann so lange knetet und pflegt und streichelt und hält und küsst, bis es so speziell und lokal ist, dass es den Preis, den ich dafür zahle, auch verdient.

Und den Preis zahle ich selbstverständlich gerne, schliesslich geh ich ja nicht in den Wylereggladen, um Lebensmittel zu kaufen oder um zu sparen, ganz bestimmt nicht, nein, sondern für das gute Gewissen. Dann hol ich mir eben so ein Brot und diese Apfelringe und, keine Ahnung, eingelegte Kapern, die ich eigentlich gar nicht mag, die ich aber trotzdem haben muss, weil die so überzeugend aussehen in ihrem Einmachglas. Und dafür zahle ich dann eben auch jeden Preis, den mir die Frau hinterm Tresen nennt, die Frau, die etwa fünfzig ist, aber immer noch so verdammt gute Haut hat, wegen all dem Ayurveda-Avocado-Aloevera, was weiss ich.

Das würde ich auch kaufen, böte sie es mir an, denn: Dieser sympathischen Hippiefrau gebe ich Geld und bekomme dafür ein gutes Gewissen zurück – der moderne Ablasshandel des Biokonsumenten. Etwas Nachhaltiges gekauft zu haben bei einer Frau hinter der Theke, die glücklich ist, die fair bezahlt wird, die vielleicht sogar die Chefin ist, wer weiss – ich fühle mich wie ein Feminist.

Wobei das noch gar nichts ist! Schon nicht schlecht, aber es geht noch besser. In dem Laden arbeitet manchmal nämlich auch eine dunkelhäutige Frau, die zudem noch ein Kopftuch trägt. Am allerliebsten kauf ich bei ihr ein, ein besseres Gewissen kriegst du fast nicht. Fast sage ich, und zwar zu Recht. Denn manchmal, wenn ich Glück habe, ist sie sogar ein bisschen unfreundlich zu mir. Und wenn dann diese dunkelhäutige Frau mit Kopftuch unfreundlich zu mir ist, bin ich absichtlicht oberfreundlich und dann fühl ich mich saumässig tolerant.

Ich schweife ab. Ich laufe also weiter, zur Aare runter, über den Kiesweg und dann passiert es. Ich stolpere ein wenig, nicht schlimm, nur ein bisschen, aber beim Stolpern wirble ich ein Kieselsteinchen auf. Das an sich wäre noch nicht so spektakulär, aber wie es der Zufall will, nehme ich das Kieselsteinchen mit dem anderen Fuss direkt mit, ja nicht nur das, nein, ich kicke es regelrecht und es fliegt in hohem Bogen davon. Mit Absicht würde ich das nie hinkriegen, aber wie gesagt: Es gibt manchmal Dinge, die gibt es gar nicht!

Ganz gebannt schaue ich dem fliegenden Kieselsteinchen nach, bin fast ein bisschen stolz – und dann erstarre ich sofort. Denn: Von der Aare her, aus dem Gebüsch, kommt ein kleines Kind gekrochen, nicht älter als drei Jahre, rauf zum Kiesweg und: Direkt in die Flugbahn des Kieselsteinchens! Manchmal gibt es Dinge, die gibt es gar nicht! Das Kieselsteinchen saust also in voller Fahrt auf das Kind zu, ich halte meinen Atem an, das Steinchen fliegt und fliegt und landet – ganz kurz vor dem Kind. Nichts passiert.

Zum Glück! Ich meine: Wie hätte das nur ausgesehen und wie hätte ich das den Eltern erklärt! Ich hätte in der Aufregung und um alles gewissenhaft aufzuklären bestimmt voller hysterischem Erstaunen erzählt, was das für ein Zufall sei, das mit dem einen Fuss und dem andern und wie dann dieses Kieselsteinchen ihrem Kind voll ins Auge geflogen sei! Wahrscheinlich hätte ich beim Erzählen nervös lachen müssen. Ist ja schliesslich irgendwie saulustig für mich und gleichzeitig obertraurig für sie und vor allem für das Kind – was für ein einmaliger tragikomischer Slapstick-Moment! Wahrscheinlich hätten die Eltern meinen Enthusiasmus diesbezüglich nicht geteilt, aber eben: Es ist ja zum Glück auch nicht passiert. Schliesslich gibt es manchmal Dinge, die gibt es wirklich nicht.

Was ich mich aber trotzdem gefragt habe danach, war: Was hatte das Kind da überhaupt zu suchen? Kommen vielleicht so Berner Kinder auf die Welt? Ähnlich wie diese Meeresschildkröten, die im Gebüsch an Land auf die Welt kommen und nur überleben, wenn sie es ins Wasser schaffen, bevor die Vögel sie erwischen – einfach umgekehrt? Werden die Berner in der Aare geboren, kriechen dann an Land und überleben nur, wenn sie es rechtzeitig ins Gebüsch schaffen? Bevor sie von all den zugezogenen Baslern, Solothurnern oder St. Gallern mit ihren Hunden und Hüftleinen und Kinderwagenbuggys getötet werden? Hatte darum vielleicht jeder Berner in seiner Kindheit ein traumatisches Erlebnis mit einem Zugezogenen?

Wenn ich mir das so überlege, kann ich jeden Berner verstehen, der mir schon einmal mit funkelnden Augen und voller Hohn «Hopp Sanggallä, fürä mitm Ballä!» entgegengebellt hat. Und falls es manchmal Dinge, die es gar nicht gibt, vielleicht doch gibt und mir darum tatsächlich einmal in zwanzig oder dreissig Jahren im Wylereggladen ein Mann begegnet, der über dem einen Auge eine Klappe trägt und mich mit dem anderen gesunden Auge vorwurfsvoll anschaut, würde ich selbstverständlich alles tun, um es wieder gutzumachen. Vielleicht mit einem Glas eingelegter Kapern.