Jedes Besteigen verboten

von Renato Kaiser 14. Juli 2015

In der letzten Kolumne schrieb ich noch: Berner sind auch Menschen. Ganz normale Menschen. Wie du und ich. Da stellt sich natürlich die Frage: Was heisst schon «ganz normal»? Und wer sind «du und ich»? Und wie schlimm fühlt es sich für einen Berner an, wenn der, der «ganz normal wie du und ich» sagt, ein Ostschweizer ist?

Aber vor allem: Ist «ganz normal» nicht sowas wie der Blockflöte spielende kleine Bruder von «langweilig»? Sage ich also, Berner seien Langweiler?

Damit wäre ich ja nicht der erste. Die Stadt Bern sei träge, hörte ich zum Beispiel schon oft von Zürchern. Sie schlafe ein bisschen und damit auch ihre BewohnerInnen. Sogar der Rapper Baze sagt auf seinem Album «Unplugged», dass diese Beamtenstadt eine verdammt langweilige Angelegenheit sei. Und auch wenn er danach relativiert, Zürich sei auch nicht viel spannender, fragte ich mich, so als Zugezogener, als Neuling, sozusagen Lernender: Sind die Berner vielleicht wirklich langweilig?

Aber nur, bis ich vor kurzem über die Kornhausbrücke spaziert bin und ein Schild gelesen habe mit der Aufschrift: «Jedes Besteigen des Schutzzauns ist streng verboten.» Das ist aber ganz schön präzis, dachte ich. Hätte ein einfaches „Besteigen des Schutzzauns verboten” nicht gereicht? Was muss hier Verrücktes passiert sein? Dass die Vorschrift so genau formuliert werden musste?

«Jedes Besteigen ist verboten!», höre ich den resoluten Beamten sagen, «nicht jedes dritte oder jedes siebte, jedes. Jedes!« Haben da etwa besteigungsgierige Berner Adrenalinjunkies eine dönerbudenähnliche Stempelkarte vorgeschlagen, dank der jedes zehnte Besteigen erlaubt ist? Oder ging es gar nicht um die Zahl, sondern um die Form, die Art und Weise, den Stil, sozusagen, die B-Note?

Wie viele Bernerinnen und Berner müssen diesen Schutzzaun kreativ bestiegen haben, was weiss ich, mit einer lustigen Clownsnase auf oder nur mit einer YB-Socke bekleidet oder huckepack zu zweit oder Querflöte spielend oder komplett mit Butter eingerieben oder ein Buch lesend oder einen Eis essend oder einen Selfiestick lutschend oder zwei und zwei zusammenzählend oder Büroklammern auffaltend oder die Allgemeinen Geschäftsbedingungen akzeptierend oder mit gekreuzten Fingern oder sich an einem Blatt Papier schneidend oder mit einem Schirm oder mit einem Kissen oder ironisch oder post-ironisch oder pantomimisch, bis der Beamte unmissverständlich klar machte: «Nein, nein, nein! Jedes Besteigen des Schutzzauns ist streng verboten.»

«Und wenn nicht streng? Mit einem Lächeln vielleicht? Hm? Ist es dann erlaubt?» soll einer darauf noch erwidert haben. Dieser ekelhafte Neunmalklug wurde aber, so erzählt man sich, über den Schutzzaun hinweg in die Aare geworfen. Irgendwo hat auch die Geduld eines Berner Beamten seine Grenzen.

Berner sind also nicht langweilig, ganz im Gegenteil: Einfallsreich und kämpferisch sind sie. Und die überkorrekte Beamtensprache der Stadt Bern ist nur eine Folge dieser überbordenden, kindlich spielerischen Kreativität. Davon war ich spätestens dann überzeugt, als ich am Verbotsschild vorbei in die Tiefe schaute und im Fangnetz unter der Brücke ein Fahrrad erblickte.

Recht so, kleiner Rebell, dachte ich mir. Fight The System. Von Befahren des Schutzzauns war nie die Rede.