Tamilischer Mittagstisch als Erfolgsgeschichte

von Bettina Hahnloser 14. April 2015

Seit dreissig Jahren gibt es jeden Donnerstag einen tamilischen Mittagstisch im Kirchgemeindehaus Schosshalde im Obstberg. Eine heimliche, aber unvergleichliche Erfolgsgeschichte mit Gästen aus dem ganzen Quartier und darüber hinaus.

Das Auto mit den Esswaren fährt pünktlich um 10 Uhr 30 vor dem Kirchgemeindehaus Schosshalden vor. Es ist geladen mit 10 Kilo Kartoffeln, 12 Kilo Rüebli, 4 Kilo Zwiebeln, einem Kilo Zitronen, Lauch und Peperoni, Pelati, und Tomatenpüree, Reis, Kaffee und Güetzli, vier Liter Joghurt und einigen Kilos Pouletfleisch. Tamilische Helferinnen und Helfer eilen herbei, um das Frachtgut auszuladen und in die Küche zu transportieren. Vreny Mohr und Anita Gerber setzen sich erschöpft auf einen Stuhl: Immerhin sind die beiden Frauen längst im Pensionsalter und haben soeben einen knappen Zentner Ware in der Migros eingekauft und in ihren Wagen gehievt. In der Küche macht sich sogleich ein Team von rund 20 Tamilinnen und Tamilen ans Werk; es wird gerüstet, geschnetzelt und gewürzt. Zuvor haben sie die Tische in den Hauptsaal des Kirchgemeindehauses transportiert, in langen Reihen aufgestellt und gedeckt. Wieviele Gäste kommen werden, ist ungewiss; gerechnet wird mit achtzig bis 120 Leuten. Heute steht das Gericht «Nudelpuriani» auf dem Menüplan, es riecht herrlich nach Zwiebeln und gebratenem Poulet.

Geschlossene Zivilschutzzentren

So beginnen seit genau 30 Jahren alle Donnerstage im Kirchgemeindehaus Schosshalde, ausser die Feiertage. Mit dem Unterschied, dass damals vor allem Tamilinnen und Tamilen an den Tischen sassen. Heute stehen die ehemaligen Asylsuchenden hinter den Töpfen und bewirten Gäste aus dem Quartier. Der Anlass ist eine veritable Erfolgsgeschichte. Begonnen hatte alles mit dem Bedürfnis einiger Schweizerinnen und Schweizer, den in der Schweiz gestrandeten Asylbewerberinnen und -bewerbern aus Sri Lanka zu helfen. 1983 war dort der Bürgerkrieg ausgebrochen, er sollte bis 2008 andauern. Es kam zu landesweiten Pogromen gegen die tamilische Minderheit. Tausende bewarben sich in der Schweiz um Asyl; viele Bewerbungen wurden abgewiesen, die Betroffenen aber vorläufig nicht ausgeschafft. Arbeiten durften sie nicht. Ihr zugewiesenes Zuhause, die Zivilschutzzentren, war tagsüber geschlossen, die Asylsuchenden mussten irgendwo im Freien die Zeit totschlagen.

Start in der Schosshalde

Auch die Sozialhelferin Susanne Lehmann und Hansueli Wäckerli wollten hier nicht tatenlos zusehen. Sie fragten die Kirchengemeinden an, ob diese einmal in der Woche ihre Räume zur Verfügung stellen könnten. Die Schosshalde war einverstanden unter der Bedingung, dass die Betreuung von den Organisatoren gewährleistet sei. Es formierte sich eine Begleitgruppe, die sich um die Asylsuchenden kümmerte und den Ablauf regelte. Anfänglich opponierten einige Bewohner des Quartiers gegen das Vorhaben, erzählt Vreny Mohr. Die «Nachberegruppe Obstberg» aber war begeistert von der Idee und half mit, Freiwillige zu rekrutieren.

Die Frauen Vreny Mohr, Anita Gerber, Gertrud Gazdag und Barbara Joss waren von der ersten Stunde mit dabei. Bis heute ist der Donnerstag in ihrem Terminkalender fest eingeplant. Früher, so erzählt Anita Gerber, waren sie auch Ansprechpersonen für die Bedürfnisse und Nöte der tamilischen Bevölkerung: «Damals gab es noch keine Beratungsstellen für Asylbewerber. Ich war dauernd damit beschäftigt, Rekurse und Briefe an die Behörden zu schreiben oder Frauenärztinnen für Tamilinnen zu suchen. Es gab keinen Tag, ohne dass jemand von ihnen an meiner Tür klingelte.»

Gäste aus dem Quartier und der ganzen Stadt

Heute sind diese Zeiten vorbei. Geblieben ist das donnerstägliche Mittagessen. Anfangs war das Essen gratis, Spenden waren erwünscht. Diese allein aber deckten das Budget nicht, und so kostet der Lunch heute je nach Einkommenslage zwischen 5 und 12 Franken. Die «Nachberegruppe Obstberg» hält dem Anlass noch immer die Treue und zahlt jährlich 500 Franken ein. Das Küchenteam setzt sich jeweils selber und meist ad hoc zusammen. Die Personalien werden nicht kontrolliert: «Wer da ist, ist da, und das reicht», sagt Vreny Mohr.

Schon vor zwölf Uhr treffen die ersten Gäste ein, nehmen Platz und beginnen ihre Gespräche mit den Sitznachbarn. Hier treffen sich Freunde und Bekannte. Es kommen Kinder mit Eltern, die früher selber als Kinder hier waren: «Das ist schön, die Familien wachsen zu sehen», sagen die Organisatorinnen. Clara und Rahel, Schülerinnen des gegenüberliegenden Laubeggschulhauses, reden über ihre Lehrer und die Tests, während sie warten. «Wir kommen hierher, weil es billig ist und sehr speziell – meine Mutter kann das nicht kochen», sagt Rahel und lacht. «Es sind immer mega-viel Leute hier, das fägt.» Auch das Ehepaar Dix, wohnhaft beim Helvetiaplatz, nimmt hier schon «viele, viele Jahre» jeden Donnerstag Platz, «weil das Essen so gut ist», sagt sie, und er fügt an: «…und so scharf, das mag ich.» Schön sei, dass auch Kinder willkommen sind, «das gibt Leben.» Beim Buchstabieren des Nachnamens bestätigt die Ehefrau die verwunderte Nachfrage: Jawohl, ihr Mann sei der Enkel des deutschen Malers Otto Dix!

Schlange vor den riesigen Töpfen

Der Saal füllt sich bald bis auf den letzten Platz. Die Schlange, die sich vor den riesigen Töpfen bildet, reicht entlang den Wänden bis an den vordersten Tisch. Mit einem Wink geben jetzt die Organisatorinnen den Startschuss, die Tamilinnen öffnen die Deckel und schöpfen flink drauflos. Es sind grosse Portionen, und wer noch mag, darf sich ein zweites Mal bedienen. Die Frauen des Teams sind die ersten, die sich ihr Essen holen, denn sie werden im Anschluss bei den Gästen das Geld einkassieren oder ein Loch in das «Mehrmenuekärtchen» knipsen. Wenn die Einnahmen die Kosten übersteigen, erhält das ehrenamtlich tätige Küchenteam diesen Rest als Trinkgeld; meist reicht es für 20 Franken für jeden. Auch das Betreuerinnenteam, das nun schon einige Stunden auf den Beinen ist, arbeitet ehrenamtlich, und dies seit nunmehr 30 Jahren. Die Frauen tragen sogar die Spesen selber und bezahlen für ihre Menüs.

Ein Auslaufmodell?

«Nach dem Essen sind wir jeweils ziemlich erschöpft», sagt Vreny Mohr und lehnt sich lachend zurück. Im Jahr 2000 verlieh ihr die Fachstelle Migration den Förderpreis Migration für Aufbau und Betrieb des Treffpunktes. «Wir sind nicht mehr die Jüngsten! Aber es ist schwierig, Nachfolger zu finden, wir sind eben ein Auslaufmodell.» Die junge Generation sei heute weniger bereit, gratis zu arbeiten; Vreny Mohr versteht das gut: «Kein Wunder, bei den heutigen Lebenshaltungskosten». Was passiert, wenn die Freiwilligen einmal kürzertreten werden? «Dann nimmt diese Geschichte wohl ein Ende», sagt Anita Gerber und zuckt die Schultern. Doch bis dann werden wohl noch einige Mittagstische ins Land ziehen, denn «wenn wir diesen Anlass nicht hätten, würden wir etwas in unserem Leben vermissen.» Die Frauen schauen sich an und nicken.

Ansturm zum Jubiläum

Im Oktober feiert der tamilische Mittagstisch das 30-Jahr-Jubiläum. Das Organisationskomitee, bestehend aus den tatkräftigen Gründerfrauen selbst und Renate Müller, rüstet sich für einen wahren Ansturm. «Schön wäre es, wenn dies jemand anders für uns organisieren würde», sagt Anita Gerber. Und erntet wieder Zustimmung ihrer Gefährtinnen.