Berner sind auch Menschen

von Renato Kaiser 10. März 2015

Seit Oktober 2014 wohnt der Ostschweizer Spoken-Word-Künstler Renato Kaiser in Bern, im «Braitärain», um genau zu sein. Diese neue Erfahrung hat ihm die Augen geöffnet.

Was habe ich gespottet. Was habe ich schwadroniert. Was habe ich polemisiert. Aus reiner Notwehr, dachte ich damals. Was sollte ich auch anderes tun? Ich als Ausgestossener, als Randständiger, als St. Galler. Minderheiten, die sich gegängelt fühlen, neigen nun mal zur reaktionären Überkompensation, vor allem wenn sie sich in ihrer Diskriminierung ignoriert oder belächelt fühlen. Sie rotten sich in Gruppen zusammen, bilden Parallelgesellschaften und halten sich mit Parolen über Wasser, die sie mantramässig vor sich hinmurmeln, als Sticker auf ihre Autoheckscheiben kleben oder als Plakatschilder an die Autobahn stellen.

Ein Beispiel dafür sind die Rheintaler. Die sagen: «Ohne Rheintal keine Schweiz.» Falls Sie nicht wissen, was das Rheintal überhaupt ist: Das ist völlig normal. Das Rheintal liegt so weit im Osten der Ostschweiz: Es wird sogar von Ostschweizern ausgegrenzt. Oder mein persönlicher Favorit: «Rheintal – Chancental.» Dabei weiss niemand wirklich genau, welche Chance dort überhaupt auf einen wartet, abgesehen davon, bei Unwettern als erster vom Rhein überschwemmt zu werden.

Tagtäglich von Bernern umgeben

Wie dem auch sei: Auch ich war nicht frei von derlei Übersprungshandlungen. Mehr als das: Ich habe sogar ein Buch geschrieben über «Die Erlebnisse aus der Selbsthilfegruppe für Anonyme Ostschweizer», in dem ich schildere, wie verschüchterte Exil-Ostschweizer ihr jämmerliches Dasein in der Finsternis der Berner Diaspora fristen. Aber damit ist jetzt Schluss! Denn seit ich in Bern wohne und somit tagtäglich von Bernern umgeben bin, ihr Verhalten beobachtet und ihr Wesen studiert habe, seither weiss ich: Berner sind auch Menschen.

So kommen Berner zum Beispiel mit den gleichen genetischen Fähigkeiten auf die Welt wie wir alle, in einem angemessen Tempo zu kommunizieren. Nach der Geburt wird ihnen jedoch ein Sprachpaket überreicht, auf dem «Berndeutsch» steht. Der Berner öffnet es, schaut hinein, entdeckt all die seltsamen Laute wie «iuu», «ääuuu» und «ööuu». Er denkt sich: «Da redi sicho nöd schnell!» Denn vor der Paketvergabe sprechen alle Menschen Sanktgallerdeutsch. Und er lässt sich von da an die benötigte Zeit beim Sprechen.

Nicht der Berner ist also langsam, sondern sein Dialekt.

Dem St. Galler fehlen zehn Gesichtsmuskeln

Gerade vor kurzem beobachtete ich nämlich einen Berner, wie er das Wort «viel» aussprach. Für einen St. Galler kein Problem: «vil». Superkurz, superschnell, zackbumm, nächstes Wort. Der Berner jedoch sagt: «viiiuuu». Da bewegt sich das ganze Gesicht! Der Aufwand ist viel grösser, die Anstrengung auch, der Berner muss sein Gesicht zuerst wieder dehnen, bevor er überhaupt an das nächste Wort denken kann!

Deswegen fällt es einem St. Galler auch so schwer, den Berner Dialekt nachzuahmen, denn es fehlen ihm dazu mindestens zehn Gesichtsmuskeln. Ich zum Beispiel sage zu meinem Wohnviertel daher immer «Braitärain» und niemals «Breitsch» – aus Angst, ich könnte mich dabei selbst verletzen.