Der Tote am Aarbach (II)

von Fredi Lerch 23. Dezember 2014

Nach einem Streit verlässt Hassan Mohamed die Wohnung seiner Tante. Gut fünfzig Stunden später findet man ihn tot an einem Bachbett. Zurück bleiben hundert Fragen, keine Antworten und eine Einstellungsverfügung.

Nafisa A. ist die Cousine des Toten und kommt nicht zur Ruhe. Jetzt sitzt sie im Treffpunkt Untermatt in Bethlehem und erzählt. Ein schwerer Tag sei das gewesen, dieser 29. Februar 2012, als abends ein Polizist gekommen sei und gesagt habe, man habe Mohamed tot in einem Bachbett gefunden. Nach dem Streit wegen der Plastiktabletten habe sie ihre Mutter noch am Montagnachmittag wegen starken Fiebers ins Inselspital bringen müssen. Am Dienstag sei dann der Anruf aus Somalia gekommen, eine Schwester ihrer Mutter sei gestorben. Und nun musste sie Mohameds Mutter in Südafrika und seinen Vater in Atlanta anrufen, in Bern sei ihr Sohn gestorben und man wisse nicht, wie und warum.

Der Polizist, der sie nachher als Zeugin befragt hat, hat auch wissen wollen, wie Mohamed «im Kopf gewesen sei». Auf jeden Fall habe er sich nicht umgebracht, sagt Nafisa A. – schon deshalb nicht, weil er im Winter zuvor mehrmals gesagt habe, nach Südafrika reisen zu wollen, um seine Mutter endlich wieder einmal zu sehen: «Er hatte Pläne. Er war kein Psychopath.»

Damals hat der Polizist in sein Befragungsprotokoll notiert: Laut Nafisa A. sei Mohamed «in letzter Zeit manchmal komisch gewesen. Er habe Halluzinationen gehabt und habe vor vielem Angst gehabt, aber eigentlich nicht vor Menschen. Auch habe er Sachen gesehen, die nicht existierten. Auch habe er öfters Selbstgespräche geführt.»

Diese Protokollzeilen tönten wie die Aufzählung von Krankheitssymptomen. So habe sie das aber nicht gesagt, widerspricht Nafisa A. Klar habe Mohamed manchmal mit sich selbst geredet, zum Beispiel aus selbstironischem Ärger, wenn etwas nicht so gewollt habe wie er.

Was wollte Mohamed auf dem Längenberg?

Seit diesem 29. Februar 2012 gibt es viele unbeantwortete Fragen: War Mohamed überhaupt in Steinbach? Polizisten haben den Wald weiträumig abgesucht und zweihundert Meter bergauf am Aarbach die eine der beiden Taschen Mohameds gefunden. Also muss er dort oben gewesen sein. Stieg er dort hinauf, deponierte die Tasche und kam wieder herunter, um zu sterben? Oder kam er von oben, liess aus irgendwelchen Gründen die Tasche zurück und ging durch den steilen Graben talwärts weiter?

Oberhalb des Waldes führt die Untere Längenbergstrasse an Zimmerwald vorbei Richtung Riggisberg. Was hat Mohamed dort oben gesucht? Gekannt habe er sicher niemanden dort oben und auch in Belp habe er keine Kollegen gehabt, sagt Nafisa A.

Wenn er aber trotz allem dort oben gewesen wäre: Warum folgte er nicht der Autostrasse Richtung Kehrsatz oder zumindest dem Fahrweg, der ziemlich genau oberhalb des Aarbach-Grabens von der geteerten Strasse abzweigt und in zwei, drei grossen Schwüngen durch das Cholholz talwärts nach Steinbach führt zur Station der Gürbetalbahn, die ihn nach Bern zurückgebracht hätte? Ein Billett hätte er sich kaufen können: In seinen Taschen fand die Polizei gut sechzig Franken.

Offenbar durchstieg er tatsächlich den Aarbach-Graben. Seine Kleider und Taschen waren verschmutzt und stark durchnässt – die drei Handys, die er bei sich hatte, auszuwerten, sei auch «nach deren Trocknung […] technisch nicht möglich» gewesen, steht im Polizeirapport. Wer oder was hetzte Mohamed dieses teils zugefrorene Bachbett zwischen kantigen Kalksteinen, dichtem Gesträuch und meterlangen Brombeerranken hinunter?

Der Obduktionsbericht bringt keine Klarheit

Und woran starb er überhaupt? Die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Obduktion geben kaum Antworten: Wohl hatte die Leiche viele Hautabschürfungen fast am ganzen Körper und aufgeschlagene Fingerknöchel: «Die vorliegenden Verletzungen infolge stumpfer Gewalteinwirkung sind als Sturzfolgen im abschüssigen Waldgelände zu werten; Hinweise auf eine mechanische Gewalteinwirkung im Sinne einer Fremdeinwirkung bestanden nicht.» Dazu gab es Unterkühlungssymptome, allerdings «nicht sehr deutlich ausgeprägt»: «Bei Fehlen anderer den Tod des Mannes erklärender Befunde steht ein Todeseintritt durch Unterkühlung im Rahmen einer dadurch bedingten Herzrhythmusstörung im Vordergrund».

Keine Drogen. Keine Fremdeinwirkung. Keine Verletzung, die ihn zwingend handlungsunfähig gemacht hätte: Warum starb Mohamed hier, wo der steilste Teil des Abstiegs bereits überstanden war? Bloss einige Schritte unterhalb einer Holzbrücke, die direkt zu einem bewohnten Haus führt, wo er hätte um Hilfe bitten können? Konnte er nicht mehr? Aber warum nicht?

Oder war alles ganz anders?

Die «Legalinspektion» des Instituts für Rechtsmedizin hält fest, die Untersuchung der Leiche sei am Mittwoch, 29. Februar, «ab 17.40 Uhr» durchgeführt worden und die Todeszeit werde auf «ca. 40-56 Stunden vor Legalinspektion» geschätzt. Das würde heissen: Hassan Mohamed ist zwischen Montagmittag 11.40 Uhr (als er eben die Wohnung seiner Tante verliess) und Dienstagmorgen 01.40 Uhr gestorben.

Aber wenn es stimmt, was der Rentner V. Z. gegenüber der Polizei ausgesagt hat, dann lag die Leiche am Dienstagnachmittag um 16.30 Uhr noch nicht an der Böschung, denn auch an diesem Tag habe er seinen Spaziergang über die Brücke in den Wald gemacht und nichts Auffälliges beobachtet. Zu diesem Zeitpunkt müsste Mohamed längst tot gewesen sein. Hat V. Z. die Leiche übersehen? Und falls nein: Wo war sie?

In diesem Fall wäre Mohamed nicht am Fundort gestorben, sondern Dritte hätten seine Leiche dort deponiert. Aber warum das? Mord war es sicher nicht. Erfror Mohamed anderswo? Wollten jene, die ihn fanden, keine Scherereien mit der Polizei? Keine Nachfragen wegen unterlassener Hilfeleistung? Hatte man die Leiche ins Wasser des Aarbachs gelegt, zerkratzt und halb entkleidet, damit den untersuchenden Behörden das mysteriöse Erfrieren an dieser Stelle plausibel erschien? Bloss: Warum sollten sich Dritte die Mühe gemacht haben, an die hundert Höhenmeter den Aarbach-Graben hinaufzuturnen, um dort oben eine der beiden Taschen des Toten zu deponieren?

Das Verfahren wird eingestellt

Es ist bald drei Jahre her, dass sich Hassan Mohamed über die Plastiktabletten seiner Tante aufregte, packte und ging. Jetzt sitzt Nafisa A., seine Cousine, im Treffpunkt Untermatt, und sagt, sie habe ein Telefongespräch gehabt mit einer Hochdeutsch sprechenden Mitarbeiterin des Instituts für Rechtsmedizin. Die habe zwar gesagt, Mohamed sei wahrscheinlich erfroren, habe aber auch Schlagverletzungen erwähnt. Warum im rechtsmedizinischen Gutachten jetzt nur von Sturzverletzungen die Rede sei? Und wo die dunkelblauen Jeans und die braunen Schuhe geblieben seien?

Mohamed sei doch Ende Februar sicher nicht barfuss und nacktbeinig unterwegs gewesen. Und warum man bei ihm zwar Geld, aber nicht das Portemonnaie gefunden habe, das er doch immer auf sich trug? Und warum die Polizei damals keinen Zeugenaufruf gemacht habe? Irgendjemand müsse doch irgendetwas gesehen haben, das Antwort gebe darauf, was mit Hassan Mohamed wirklich passiert sei.

Am 13. August 2012 hat der leitende Staatsanwalt der Region Bern-Mittelland, Hermann Wenger, eine Verfügung unterschrieben, in der es heisst: «Zusammengefasst ist von einem Unfall auszugehen. Das Verfahren wird daher eingestellt.»