Dunkelheit

von Thomas Göttin 22. Juli 2014

Thomas Göttin verbringt seinen Sommer im Jura, an einem Ort, an dem es in der Nacht dunkel wird, wirklich dunkel.

Meinen Sommer verbringe ich im Jura an einem wunderbaren Ort mit einer besonderen Eigenschaft: In der Nacht ist es dunkel. Wirklich dunkel. Es ist von diesem Ort aus in der unmittelbaren Umgebung kein künstliches Licht sichtbar. Kein Haus, keine Strassenlampe, keine Reklame, nur nachschwarze Bäume, Wiesen, Hügelkuppen. In der Ferne leuchten hinter der schwarzen Fläche des Neuenburger Sees die Lichter des Mittellandes von Murten bis Bern.

Eine nächtliche Dunkelheit, wie sie die Menschen Jahrtausende lang als normal erlebt haben. Ich kann die Milchstrasse sehen, überwältigend, den Schwan als typisches Sternbild des Sommers, den grossen Wagen und den Polarstern in der fünffachen Verlängerung seiner Hinterachse. Kümmerliches Restwissen über die Sterne. Von blossem Auge wären zweitausend Sterne zu sehen, wenn es wirklich dunkel ist. Ich könnte das Augenprüferlein ausfindig machen, einen Doppelstern, der nur mit scharfen Augen zu sehen ist, aber ich weiss nicht einmal, wo am Himmel ich suchen müsste.

Ich kann das Rauschen in den Bäumen hören, den kühlen Luftzug des Windes spüren. Der Mond wirft scharfe Schatten auf die Wiese. Der Waldrand ist vom Mondlicht fast taghell ausgeleuchtet. Nichts Aussergewöhnliches. Nichts Erwähnenswertes. Wenn diese Wahrnehmung nur nicht so selten geworden wäre. Gemäss Auswertungen von Satellitenbildern lässt sich die natürliche Dunkelheit nur noch auf 18% der Fläche der Schweiz beobachten, meist in abgelegenen Gebieten. Über vier Fünftel der Schweiz ist in der Nacht mehr oder weniger hell erleuchtet.

Berechnungen sind das, die aber nicht ankommen gegen die Wahrnehmung eines Ortes ohne nächtliches Licht als Oase der Ruhe. Am ersten August, das weiss ich vom letzten Jahr, ist ganz in der Ferne das Feuerwerk der Stadt Bern sichtbar in Form von winzigen, über den diffus beleuchteten Mittelland-Himmel verstreuten Leucht-Tupfern. Die Distanz in Zeit und Raum zu Bern könnte in diesem Moment nicht grösser sein.