Die Utopie der Widerspenstigen

von Naomi Jones 1. Juli 2014

Letzten Freitag wurde im Kornhausforum die Ausstellung über das Kooperativen-Netzwerk «Longo maï» eröffnet. Sie beleuchtet die Geschichte dieser selbstverwalteten landwirtschaftlichen und handwerklichen Kooperativen in Europa.

Zur Vernissage der Ausstellung «Die Utopie der Widerspenstigen – 40 Jahre Longo maï» schenkte Andreas Nufer, Pfarrer der Heiliggeistkirche, den Anwesenden von Longo maï einen Apfelbaum: Aus einem Kern gewachsen sei der Pro-Specie-Rara-Baum, er halte sich nicht an Konventionen, denn man könne ihn entgegen der Lehrbuchmeinung jederzeit in die Erde pflanzen, und er sei besonders widerstandsfähig – ein sogenannter Lederapfel. Ebenso Longo maï: aus einer Idee entstanden und von 25 Jugendlichen gegründet, gehören heute zehn selbstverwaltete Kooperativen in sechs Ländern dazu. Longo maï feiert den vierzigsten Geburtstag der Bewegung mit dieser Ausstellung. Sie ist von Palma3 unter der Leitung von Andreas Schwab und in Zusammenarbeit mit Mitgliedern von Longo maï kuratiert worden.

Möge die Utopie lange währen

24 Jugendliche aus der Schweiz und Österreich zwischen 16 und 23 Jahren und der 43-jährige Charismatiker Roland Perrot, genannt Rémi, gründeten 1973 die erste Kooperative in der Gemeinde Limans in Frankreich, wo sie drei verfallene Höfe kaufen konnten. Sie wollten ein Gegenmodell zur kapitalistischen Gesellschaft schaffen und die Utopie einer gerechten Gemeinschaft leben. Der Name Longo maï ist provenzalisch und bedeutet «Möge es lange währen».

Vierzig Jahre später leben und arbeiten rund 200 Menschen in den Siedlungen in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Ukraine und in Costa Rica. Sie betreiben Bio-Landwirtschaft und eine Spinnerei. In Basel befindet sich der Verein Pro Longo maï. Er sammelt Spenden, mit denen die Kooperativen, ihre politischen Kampagnen und ihr soziales Engagement unterstützt werden. In der Provence betreibt Longo maï den eigenen Sender Radio Zinzine.

Ausser einem kleinen Taschengeld erhalten die Mitglieder keinen Lohn. Aber die Ausgaben für persönliche Bedürfnisse werden ebenso wie das Essen aus der Gemeinschaftskasse bezahlt. Die Kommunen sind basisdemokratisch organisiert. Wöchentlich halten sie eine Vollversammlung ab, an der es keine Abstimmungen gibt. Die Mitglieder diskutieren solange, bis sie einen Konsens gefunden haben. Zumindest in der Theorie unterscheidet die Kooperative nicht zwischen produktiver und unproduktiver Tätigkeit. Jedes Mitglied entscheidet selbst, wie es sich einbringt; ob im Bauernbetrieb, der Küche oder beim Kinderhüten, ob in politischen Aktionen oder bei Radio Zinzine.

Das politische Engagement ist ein wichtiger Teil von Longo maï. Die Bewegung setzt sich unter anderem für Flüchtlinge, Sans Papiers und Fremdarbeiter auf spanischen Plantagen ein. Aktuell steht die Saatgutkampagne im Vordergrund. Seit 2011 engagiert sich Longo maï zusammen mit anderen Organisationen für die Vielfalt von Saatgut und gegen die Patentierung von diesem durch Grosskonzerne.

Blick auf eine andere Welt

Vor bald sieben Jahren begannen der Berner Historiker Andreas Schwab und der Filmemacher Simon Baumann ihre Recherchen für einen Film über die Jugendbewegung Longo maï. Immer wieder besuchten sie die Kommunen und lebten währen ein paar Wochen dort. Aus dem gesammelten Material entstand zwar kein Film, dafür ein Buch und eine Ausstellung.

Longo maï ermögliche uns einen andern Blick auf die Welt, schreibt Schwab. «Longo maï fragt nach der Wirklichkeit unseres eigenen Lebens, und zwar in einem existenziellen Sinne: Wie wichtig ist Komfort? Was will ich besitzen und warum? Was bedeutet mir gesellschaftlicher Status? Wie wichtig ist mir Selbstbestimmung? Welche Rolle spielt gesellschaftliches Engagement?» Im Stil einer grossen Reportage nähert er sich der Gemeinschaft, schreibt von persönlichen Begegnungen und Gefühlen, aber ebenso von den Fakten und der Geschichte.

Bei aller Nähe und Sympathie lässt Schwab auch kritische Stimmen zu Wort kommen und zieht am Schluss Bilanz: Longo maï sei «mit seiner inzwischen vierzigjährigen Geschichte als einzigartiger Feldversuch einer antikapitalistischen Kooperative zu werten. In seiner Grösse und Kontinuität gibt es kaum vergleichbare Beispiele. Hier wurden Lösungen gesucht und erprobt, die zwar von der Gesellschaft nicht deckungsgleich übernommen, aber doch als Denkanstösse wahrgenommen werden können.»

Sinnlich und bunt

In diesem Sinn, nämlich als Denkanstoss, ist auch die Ausstellung im Kornhausforum zu verstehen. Sie ist in Zusammenarbeit mit Katharina Morawietz und andern Mitgliedern von Longo maï entstanden. Die kritischen Stimmen haben hier etwas weniger Raum, dafür ist die Ausstellung umso sinnlicher: Da gibt es Schafwolle, die zum Berühren einlädt und einen Verkaufsstand mit Produkten aus den Kooperativen, denen man kaum widerstehen kann. Es gibt Zeitungsausschnitte, Fotos, Videos und Tondokumente.

Fichen, die von der Schweiz über Mitglieder und Freunde von Longo maï in Zeiten des kalten Kriegs angelegt wurden, zeigen, wie argwöhnisch man der Jugendbewegung gegenüber stand. In E-Mails und handschriftlichen Briefen von Jugendlichen, die sich Longo maï anschliessen möchten, liest man, welche Faszination die Bewegung noch heute auf junge Leute ausübt.

In verschiedenen Stationen zeigt die Ausstellung das aktuelle Leben und Wirken von Longo maï, die politischen Aktionen und die einen Rückblick auf die Geschichte. Für einen kurzen Moment lässt sie die romantische Sehnsucht nach selbstbestimmtem Landleben und gelebter Utopie hochleben.