Berns kluges Wassermanagement

von Barbara Büttner 2. Mai 2014

Als die Zähringer vor über 800 Jahren die Stadt Bern gegründet haben, richteten sie ein besonderes Augenmerk auf die Wasserversorgung. Ihr durchdachtes System der Zu- und Abflüsse war für die Entwicklung der Stadt von grosser Bedeutung. Vieles davon ist heute noch in Gebrauch. Ein Rundgang.

Für uns Heutige ist es selbstverständlich, dass Wasser fliesst, wenn wir den Hahn aufdrehen oder die Toilettenspülung betätigen. Ebenso selbstverständlich ist, dass das Wasser wieder abfliesst und alle Hinterlassenschaften einfach wegschwemmt in die Kanalisation. Was allerdings immer weniger bewusst zu sein scheint: Das heutige Wasserversorgungs- und Kanalsystem in der unteren Altstadt ist die Weiterentwicklung des Wasserkonzepts der Stadtgründer und funktioniert vom Prinzip her noch wie vor über 800 Jahren.

Eine solch lange Haltbarkeit eines Systems erstaunt in unserer eher kurzlebigen Zeit. Was also hat das Erfolgsmodell der Zähringer ausgemacht? Antworten darauf suchte die «Brunne Zytig» an einem Rundgang in kundiger Begleitung desjenigen, der die Berner Altstadt von seinen Grabungen her kennt wie kaum ein zweiter: Armand Baeriswyl, Mittelalterarchäologe beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern und seit kurzem auch Privatdozent an der Universität Bern.

Es ist ein grauer, nasskalter Wintertag. Es nieselt. Armand Baeriswyl steht, die Hände in den Taschen seiner dunklen Regenjacke vergraben, unter der Laube am Zytglogge-Turm. Mit dem Fuss deutet er auf die quadratischen Granitplatten am Boden. «Darunter fliesst der Stadtbach». Jener Bach also, der die Stadt schon seit der Gründung durchfliesst, wie die Grabungen bei der Sanierung der Kram- und Gerechtigkeitsgasse 2004/5 gezeigt haben. Der Bach, der die Stadt über Jahrhunderte hinweg einigermassen sauber gehalten hat, weil sein Brauchwasser auch die Ehgräben durchspült und Abfälle und Abwasser in die Aare schwemmt. Und auch der Bach, der das Löschwasser liefert.

Geldwerte Wasserkraft

Beinahe 800 Jahre lang ist der Stadtbach sozusagen die Hauptader der bernischen Wasserversorgung. Die zähringischen Stadtgründer führen ihn von Anfang an ganz bewusst und mit grossem Aufwand in die Stadt: Hergeleitet in einer künstlichen Rinne aus dem Wangental im Westen weit vor der Stadt, überwindet er über hölzerne Brücken und Aquädukte die drei natürlichen Gräben der Stadt beim ehemaligen Christoffelturm, beim Käfigturm und beim Zytglogge.

Dort, wo heute der Theater- und der Kornhausplatz liegen, verläuft die natürliche Grenze des ersten und ältesten Teils der Stadt. Baeriswyl sagt, die Aare habe nach der Eiszeit diesen Graben 15 bis 20 Meter tief ausgefräst.

Die Zähringer wissen, wie zentral die Wasserversorgung für eine Stadt ist. Spätestens seit ihrer ersten Stadtgründung, Freiburg im Breisgau (1120), wissen sie aber auch sehr genau, dass sich mit Wasser auch gutes Geld verdienen lässt. Vor allem, wenn die Wasserkraft, die einzige Energiequelle der damaligen Zeit, industriell genutzt werden kann, für den Antrieb von Wasserrädern etwa.

Der Zähringer, Berchthold V, habe sicher in seiner Entourage Wasserfachleute und Ingenieure gehabt, mutmasst Baeriswyl, um gleich hinzuzufügen, dass die Quellenlage natürlich dürftig sei. Schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit gebe es kaum.

Auch für damals gilt: Wer gibt, dem wird gegeben

Immerhin, ein Name ist im frühen 13. Jahrhundert aktenkundig: Immo von Dentenberg. Und dieser Name verweist darauf, dass die Zähringer ihre Stadtgründungen von ihren Adligen und Ministerialen mitfinanzieren lassen. Der Dentenberger, so ist zu lesen, baut und finanziert «mit grossen Mühen und Kosten» Herleitung und Anlage des Stadtbachs – und wird dafür grosszügig belohnt. Mit einer Mühle an Toplage, am Anfang der heutigen Postgasse, exakt dort, wo der Stadtbach über den steilen Hügel in die Aare stürzt. Baeriswyl: «Für mittelalterliche Verhältnisse war diese Mühle eine Geldscheiss-Maschine.»

Mit der Aussicht auf Gewinn wurden schon damals Investitionen gerne getätigt: Wer sich am Bau der Stadtmauer beteiligte, konnte später mit Zolleinnahmen rechnen. Wer die Pflästerung der Marktgasse übernahm, hatte gute Chancen auf das lukrative Amt des Marktrichters. «Der Zähringer ist viel unterwegs, er muss sich darauf verlassen, dass seine Vertrauten in seinem Sinne handeln. Und das funktioniert am besten, wenn sie dafür etwas bekommen.»

Baeriswyl klappt den Kragen seiner Regenjacke hoch, zieht sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht und tritt energisch aus der schützenden Zytglogge-Laube hinaus in den Nieselregen. Um gleich wieder zu stoppen: «Hier wird der Stadtbach künstlich verzweigt.»

Mit einer ausholenden Armbewegung beschreibt er einen Halbkreis, der die umliegenen Gassen umfasst. «Der Bach fliesst jetzt durch die Hauptgasse und die angrenzenden Längsgassen abwärts». Die Zähringer hätten die Aarehalbinsel eben nicht nur aus strategischen und verteidigungstechnischen Gründen für ihre Stadtgründung gewählt, sagt er. Sie hätten auch erkannt, wie ideal das natürliche Gefälle des Areals für die Wasserver- und -entsorgung sei: Die Neigung des Geländes vereinfacht den Zu- und Abfluss des Wassers.

Getrenntes Wasserversorgungssystem

Schnellen Schritts steuert Baeriswyl den Zähringerbrunnen an. Die Motorengeräusche eines Busses und eines Lastwagens übertönen seine Schritte und fast auch seine Stimme. Dabei ist ihm seine nächste Feststellung so wichtig, dass er sie noch zweimal wiederholt: «Der Stadtbach hat nie die Brunnen gespeist.» Sondern nur ihr überschüssiges Wasser aufgenommen und abgeleitet.

Der Bach liefert Brauchwasser, fliesst er doch bis ins späte 19. Jahrhundert, bis ihn der zunehmende Verkehr unter die Erde bannt, in offenen Rinnen durch die Mitte der Altstadtgassen. Der Regen spült den Strassenschmutz in die Rinnen, die Hinterlassenschaften all der Rösser, Ziegen, Schafe, Kühe und Schweine inklusive, die sich nicht nur an Markttagen in den Gassen aufhalten. Sein Wasser ist zum Trinken ungeeignet, darum wird das Trinkwasser separat geliefert. Diese Trennung von Brauch- und Trinkwasser ist ein Schlüssel zum Erfolg des Berner Wasserversorgungssystems.

Gestützt auf den Brunnenrand holt der Historiker aus zu einem Exkurs über die Trinkwasserversorgung im mittelalterlichen Bern. Er erzählt, dass zunächst Sodbrunnen, die vom Grundwasser gespeist werden, das Trinkwasser liefern. Der Stettbrunnen unterhalb der Brunngasse etwa oder der später in einen Keller umgewandelte Lenbrunnen in der Postgasse. Doch weil die junge Stadt Bern immer mehr Zuwanderer anzieht, wird die Wasserversorgung schon bald prekär.

Das erste Holzleitungssystem

Nach dem Hitzesommer von 1395 reicht das Grundwasser definitiv nicht mehr aus. Die Berner müssen ihr Brunnensystem umstellen: Neue hölzerne Röhrenbrunnen, aus denen stetig Wasser fliesst, werden gebaut. Ihr Wasser kommt erstmals aus Quellen ausserhalb der Stadt, herangeführt wird es in geschlossenen Rohrleitungen, sogenannten Teuchelleitungen: Miteinander verbundene Holzstämme, die mit sogenannten Löffelbohrern nach dem Korkenzieherprinzip ausgehöhlt werden.

1585 gelingt es zum ersten Mal, Wasser aus einer tiefer gelegenen Quelle mittels eines mechanischen Pumpwerks in die Stadt zu leiten. Insgesamt fünf Frischwasserleitungen stellen jetzt die Trinkwasserversorgung bis ins 19. Jahrhundert sicher.

Task-Force für Leitungsreparaturen

Diese Teuchelleitungen haben es Baeriswyl angetan. Mit hörbarer Begeisterung beschreibt er, wie am Teuchelbohrplatz am Stadtbach im Bereich der heutigen Bahnhofs-Welle diese frühen Druckleitungen sozusagen im Akkord gebohrt werden. 10 bis 15 Meter lang ist so ein Baustamm. Für das Leitungsnetz werden tausende Stämme benötigt. Dort schwimmen auch im «Teuchelweiher», einer Ausbuchtung des Stadtbachs, immer rund 500 Bäume, damit kaputte Holzrohre rasch ersetzt werden können.

«Es gibt eine richtige Task-Force, die nur für Reparatur-Einsätze zuständig ist», berichtet er. Denn obwohl die Stämme unterirdisch verlegt werden, ist immer irgendwo ein Stamm kaputt: verfault oder eingefroren und dann aufgeplatzt oder verstopft, weil der Durchmesser der Bohrkanäle nur 10 bis 12 Zentimeter beträgt. Baeriswyl grinst und sagt: «Der Ärger wegen der ständigen Leitungserneuerungen hat in Bern eine mindestens 500jährige Tradition.»

Kutteln waschen verboten

Eine noch längere Tradition allerdings hat die Diskussion um ein «subers Bärn». Denn weil sich das Wasser des Stadtbachs zum Reinigen und Spülen eignet, wird im Mittelalter in der Hauptgasse rittlings über dem Bach eine offene hölzerne Markthalle errichtet, unter deren Dach die Metzger, Bäcker, Fischer, Krämer, Tuchhändler und Gerber ihre Waren feilbieten.

Den Gewerbetreibenden und Handwerkern muss es allerdings behördlich untersagt werden, den Stadtbach zu verunreinigen. Trotz Strafandrohung landet aber immer wieder Abfall im Bach, waschen Metzger Kutteln und andere Schlachtabfälle in seinem Wasser und die Gerber die Häute. Mitte des 15. Jahrhunderts wird die Markthalle abgebrochen.

Was Ehe und Ehgraben gemeinsam haben

«Der Stadtbach ist eben kein Abwasserkanal, kein Ehgraben, sondern der Ehgrabenspüler», sagt Baeriswyl und nimmt nach dieser Klarstellung langsam Kurs auf die Münstergasse. Nur in die offenen Ehgräben dürfen Abfälle geworfen werden. Und auch nur organische Abfälle, keine Gegenstände. Denn die hätten «die Gräben verstopfen und damit das ganze Wasserableitungssystem zum Erliegen bringen» können. Diese bewässerten Ehgräben sind, neben der getrennten Zufuhr von Trink- und Brauchwasser, der zweite Pfeiler der wohldurchdachten mittelalterlichen Wasserinfrastruktur.

Gleich zu Anfang werden diese Abwassergräben jeweils in der Mitte zwischen der Haupt- und den Nebengassen angelegt. «Nachträglich kann man so etwas nicht mehr bauen», sagt Baeriswyl. Zuviel Streit gebe es dann, markieren doch in Bern die Ehgräben den Grundbesitz, also die Grenze zwischen Häusern und Parzellen.

Was auch den Namen erklärt, denn die Vorsilbe «Eh» leitet sich vom mittelhochdeutschen «ê» ab, was «Gesetz» bedeutet. Etwas, das seit «eh und je» Gültigkeit hat. Eine Ehe ist demnach eine rechtlich gesetzte Verbindung, ein Ehgraben ein rechtlich gesetzter Graben. Der Ehgraben gehört den Hausbesitzern. Sie zahlen für Unterhalt und Reinigung. Nicht die Stadt. Damals wie heute.

Für die Beschaffenheit dieser zunächst mit Holz, später dann mit Stein ausgekleideten Abwasser-Rinne gibt es im Prinzip nur eine Vorschrift: Ein einjähriges Schwein muss sich bequem im Ehgraben drehen können. «Eine Masseinheit, die Sinn macht», witzelt Baeriswyl. Werden doch in den Hinterhöfen neben anderem Nutzgetier auch viele Säue gehalten.

Des Stadtbachmeisters Pflichtenheft

Doch nicht nur Hof-, Haus- und Küchenabfälle landen im Ehgraben. Auch die Fäkalien, menschliche wie tierische. Damit der Dreck nicht aus den Ehgräben quillt, werden sie regelmässig mit Stadtbachwasser durchgespült – ein Luxus, auf den viele andere mittelalterliche Städte mangels Fliesskanalisation verzichten müssen. Dort schaufeln die bedauernswerten «Heimlicher» Ehgräben und Fäkalschächte alle paar Jahre per Hand aus.

In Bern gibt es statt des geächteten Berufsstandes der «Heimlicher» den hochangesehenen, vereidigten Stadtbachmeister. Streng nach Vorschrift reinigt er die Ehgräben. «In seinem Pflichtenheft ist genau festgeschrieben, wie oft im Winter und wie oft im Sommer er die Ehgräben durchspülen muss.»

Beim Gang durchs Finstergässchen erläutert Bäriswyl, wie ein Schiebersystem am Zytglogge dem Stadtbachmeister ermöglicht, die einzelnen Bachabzweigungen zu öffnen oder zu schliessen. «So wird der Wasserdruck fürs Durchspülen des jeweiligen Ehgrabens erhöht.» Doch mitunter muss er halt doch «mit dem Besen in der Hand durch den Ehgraben gehen und das, was sich dort festgehockt hat auflockern, damit es abfliessen kann».

Woran man den Ehgraben erkennt

Baeriswyl schmunzelt und hält inne. In den Quergässchen, sagt er, sieht man immer, wo der Ehgraben verläuft. Er zeigt auf eine grosse quadratische Metallplatte und einen runden gusseisernen Kanaldeckel. «Da geht es runter in den Ehgraben – und wenn man an der Hauswand hoch schaut, da sieht man das Dachwasserrohr, das hier auch in den Graben führt – und die kleinen Fensterchen da in der Hauswand zeigen: In dem Haus sind über dem Ehgraben auch die WCs. Wenn man weiss, auf was man schauen muss, dann erkennt man das überall in der Altstadt.»

In den Anfängen der Stadt gibt es hölzerne Aborthäuschen, die wohl direkt über den Ehgräben stehen, später suchen die Menschen die Plumpsklos in Aborterkern und -türmen auf. Baeriswyl betritt den Hinterhof eines Hauses in der Münstergasse. «Hier sieht man wunderschön den Abortturm», strahlt er. In der Tat, der Turm ist imposant, ein richtiger Wohnturm eigentlich. Wären da nicht die kleinen, eindeutigen Fensterchen. Wäre das Dachwasserrohr weniger funkelnd, man könnte fast meinen, in diesem holzlaubengesäumten Hof sei die Zeit stehen geblieben.

Auch in diesem Hof ist der Ehgraben natürlich – wie überall in der unteren Altstadt – längst nicht mehr offen. Weniger der Gerüche wegen werden die Ehgräben bereits seit dem späten Mittelalter überwölbt, sondern um mehr Platz zu erhalten. Denn die Stadtbevölkerung wächst unaufhörlich. Im 16./17. Jahrhundert werden auch die bis dahin offenen Zwischengässchen überdeckt, um mehr Wohnraum zu schaffen. «Wer Geld hat, baut aus», sagt Baeriswyl und schliesst die Haustür.

Die «Alte Mühle»

Einen Ort will er noch zeigen, den von der Aare herausgewaschenen Quergraben, die östliche Begrenzung der mittelalterlichen Stadt vor dem Nydegg-Burgbezirk. Denn dort, wo sich damals alle Stadtbach- und Ehgräbenstränge nach ihrer Vereinigung in der unteren Hauptgasse über den Steilhang Richtung Aare ergiessen, liegt sie nämlich noch immer, die Mühle des Immo von Dentenberg.

Längst ist sie funktionslos geworden. Nur noch das kleine viereckige Achsenloch in der Seitenwand des steinernen Nachbaus aus dem 16. Jahrhundert bezeugt, dass hier, neben dem Ausfluss des Stadtbachs, sich einst ein Mühlrad drehte.

Lukrativer Fäkalienhandel

Ganz unten am Hang, bevor Stadtbach und Ehgräbeninhalte in die Aare münden, am heutigen Längmauerweg, stellte die Stadt damals einen grossen Schlammsammler auf. Der Kasten hält organische Feststoffe zurück, Fäkalien also. Dies allerdings nicht, um den Fluss vor allzu grosser Wasserverschmutzung zu bewahren. Denn «im Mittelalter glaubte man fest an die Selbstreinigungskraft eines Flusses». Der Historiker hebt gleichsam entschuldigend die Schultern. «Man ist einfach überzeugt, dass der Fluss den eingeleiteten Dreck irgendwie wegfrisst.»

Hinter dem Schlammsammler-Konzept stehen vielmehr handfeste kommerzielle Interessen. «Die Fäkalien liefern wertvollen Dünger für die Felder. Der Verkauf bringt gutes Geld ein.» Doch auch für diesen Handel gilt die derbe Wahrheit: Aus Scheisse kann man kein Gold machen. Zumindest nicht dauerhaft.

Der Fäkaliendung wird eines Tages als Gefahr für die menschliche Gesundheit erkannt, die Schlammsammler werden verschrottet, die Stadt Bern wird die Wasserversorgung um- und ausbauen. Die Ehgräben aber werden beibehalten. Doch das sei dann die moderne Zeit – und die nicht mehr Baeriswyls Fachgebiet. Der Mittelalterexperte lächelt – und verabschiedet sich. Der Regen hat aufgehört.