Jugend ohne Gott

von Christian Pauli 10. Juni 2013

Normalos, Secondos, Durchgeknallte: Bei «Tanz dich frei» zeigte sich der Querschnitt der Schweizer Jugend von heute. Sie wollten vor zwei Wochen vor allem Spass haben. Lassen sich Spielräume der Jugendkultur reglementieren?

Vor zwei Wochen knallte es in der Berner Innenstadt. Die Tanz-Manifestation «Tanz Dich Frei» geriet zur Gewaltexplosion und in der Folge zum medialen Dauerbrenner. Schon lange nicht mehr brachte es die schmucke Bundesstadt derart prominent in die Headlines in diesem Land. Streetparade? Jugendkrawalle? Die Verarbeitung der Ausschreitungen dreht sich noch immer fast ausschliesslich um die Chaoten und die adäquate oder nicht geglückte Polizeitaktik. Es scheint, als hingen die Tränengasschwaden immer noch in Berns Gassen – oder noch schlimmer: in den Köpfen. Sicherheitsdirektor Reto Nause ruft mit eindringlicher Stimme vom Podium: «Es waren Kriminelle, die Tote in Kauf nahmen.» Und deutet verheissungsvoll an, dass man sogar auf globaler Ebene gegen die Urheber der Krawalle vorgehe.

Eigenartigerweise spricht niemand so richtig von den 10’000, die am 25. Mai auf der Strasse waren. In der Tat hatte ich als 50-jähriger um 1 Uhr morgens in der Christoffelgasse das Gefühl, der Älteste im Umzug zu sein. Was bot sich da für ein Bild – jetzt mal ganz plakativ betrachtet:

Beobachtung eins: Ein Drittel der hier versammelten Jugend sind Secondos. Kinder der Immigranten, aus Bümpliz oder Ittigen oder auch von weiter her in die Berner Innenstadt geströmt. Italos, Albaner, Spanierinnen, keine Tamilen. Die Jungs tragen schier unerträglichen Dunstfahnen mit sich herum: Testosteron, kombiniert mit billigem Herrenparfum. Die Haare sind zu lustigen Kämmen geschoren. Die Damen saugen an Zigaretten, Handtäschchen tragend. Es ist ein grosses Showlaufen. Sie wollen Spass haben.

Beobachtung zwei: Ein Drittel der Teilnehmenden ist ganz einfach durchgeknallt. Nicht mehr richtig ansprechbar. Besoffen. Zugedröhnt vom Zucker im Redbull und vom THC im Cannabis. Verladen von synthetischen Drogen. Von der Masse gesteuert. Nicht erwachsen. Schwankend. Lallend. Die Nerven verlierend. Das ist nicht anders, als an jedem gewöhnlichen Samstagabend in der Aarbergergasse.

Beobachtung drei: Der letzte Drittel sind Normalos. Unsere Kinder, die skaten oder Wöflis leiten, im Dachstock an Drum’n’Bass-Partys gehen, Lehrerinnen werden wollen, oder ein Praktikum in Kinderkrippen absolvieren. Gymeler und Studis. Junge Hippies auf Soundmobilen. Mitgetriebene. Engagierte. Kreative. Ein paar wenige politisch Aktive.

Willkommen in der Realität. Das ist die Schweizer Jugend von heute. Und das war verpasste Chance von «Tanz Dich Frei»: wir hätten die Berner Jugend von heute sehen können. Für einmal war sie nicht vor dem Bildschirm und auch nicht in miesen oder überteuerten Clubs. Die Jugend war mitten unter uns, trotz ihrer verblüffenden Heterogenität als grosse, gemeinsame Masse, vor den Scheinwerfern der Nation. Aber wir reden über Kriminelle im Facebook. Und zerbrechen uns den Kopf, was da mit Freiraum gemeint sein könnte. Die Jugend war da, und wir haben das Rendez-vous verpasst.

Für mich am eindrücklichsten (mal abgesehen vom Wasserwerfer vor dem Bundeshaus, der einen zwangsläufig beeindruckt): die paar Jungs, die das Bushäuschen in der Christoffelgase bestiegen, um daselbst – wie auf einem Catwalk – ein Tänzchen vorzuzeigen. Ich sah in begeisterte Gesichter, getrieben von einer gemeinsam empfundenen Energie, die sagt: «Hey, das ist meine Stadt und ich bin hier, um das zu feiern.» Auf TeleBärn sagte einer zu seinen Motiven, extra aus Zürich anzureisen: «Gratis an eine Party.» Ja Mensch, was bleibt der Jugend denn heute schon anderes übrig, als das Recht auf Gratisparty zu fordern?

Der oben erwähnte Reto Nause trägt eine Igelfrisur und hört AC/DC. Überhaupt ist der Polizeiminister ein lässiger Typ – ich meine das ganz unironisch. Kauft mit dem Veloanhänger ein, raucht vor allen Leuten genussvoll seine Zigaretten und predigt das mediterrane Lebensgefühl in Bern. Man darf nicht vergessen: Wir leben in einer konsumgesteuerten, überspannten Zeit. Wir richtig Erwachsenen wissen ja selber nicht mehr, was zählt. Wie sollte es denn die Jugend wissen? Wundert sich da noch jemand, dass sich die Jugend unartig und diffus artikuliert?