Von Metal, Trash und anderen Religionen

von Jessica Allemann 9. Januar 2013

Grenzen der Darstellung und Kulturgrenzen ignorierend, lotst das Kulturnetzwerk Norient die Grenzen von Kunst und Kultur aus. Das Ergebnis: Unter anderem ein Musikfilm-Festival wie eine Achterbahn.

Seit nunmehr zehn Jahren frönt Norient, das Netzwerk für Lokale und Globale Sounds und Medienkultur, dem gepflegten andersartigen Zugang zur Musik und deren Vermittlung. Ob in persönlichen Berichten oder wissenschaftlichen Abhandlungen, in journalistischer Reportage, künstlerisch-kreativer Auseinandersetzung oder etablierter Expertise: Die Macherinnen und Macher von Norient schreiben, zeigen und reden über Musik, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Die Welt der Musik und ihr Kontext sind für sie unerschöpflich und doch sehr klein: Grenzen der Darstellung und Kulturgrenzen ignorierend, lotsen sie die Grenzen von Kunst und Kultur aus. So begegnen sich Schweizer Jodler und südafrikanische Gangsta-Rapper, ghanaischer Gospel trifft auf norwegischen Black Metal – wenigstens in diesem einen virtuellen Kosmos, in dem Kulturgenuss nichts mit Kulturgrenzen zu tun hat.

Kurz vor dem 4. Musikfilm Festival des Netzwerks haben wir mit Thomas  Burkhalter, Gründer und Chefredakteur von Norient, und Michael Spahr, Videokünstler, Radiomacher und Co-Direktor des Festivals, über musikalische Vorurteile, sinnlos teures Filmequipment und Geschmacksverirrungen gesprochen. Und darüber, wie sich bulgarische Botschafterinnen wegen ihnen in die Reitschule verirren.

Ihr ignoriert grundsätzlich alle möglichen Grenzen, sagt augenzwinkernd, dass ihr nicht unterscheidet zwischen Hoch- und Subkultur, zwischen «hochsubventioniert», «selbstsubventioniert» und «selbstausgebeutet», seid ihr die Rebellen der Kulturvermittler und Festivalveranstalter?

Thomas Burkhalter:

Wir sind vielleicht Rebellen der Weltmusikszene. Ich habe die Plattform im Jahr 2002 gegründet, weil es mich als international arbeitender Musikjournalist gestört hat, dass die Produktionen von Künstlerinnen und Künstlern aus fernen Ländern hier kaum Plattform finden. So habe ich angefangen, neben meinen journalistischen Auftragsgeschichten auf Norient meine eigenen Geschichten so zu publizierten, wie ich sie haben wollte – unabhängig von den Einflüssen von Labels, der Werbewirtschaft und weiteren Interessenvertretern. Ich machte zum Beispiel eine Reportage in Serbien, in welcher der dort umstrittene Musiker Goran Bregović bei einem Weltmusikmagazin nur schon darum vorkommen musste, weil er den Vertrieb in Deutschland hatte und dieses Magazin eben von Werbeeinahmen solcher Vertriebe und Labels abhängig war. Bei Norient habe ich Bregovic dann aus der Reportage genommen. Dafür gab es auf Norient ein kritisches Interview.

Ihr setzt New Orleans neben Norwegen und Ghana neben die Schweiz – es kümmert euch nicht, von welcher Ecke der Erde eine Produktion stammt?

B:

Es geht uns darum, dass man eine fremde Kultur nicht von Beginn weg als fremd betrachtet, sondern erst einmal schaut, was diese eigentlich machen. Uns störte es auch, dass im Bereich der Weltmusik Musiker aus Asien, Afrika und Lateinamerika nur dann beachtet werden, wenn sie etwas Exotisches bieten. Wenn sie Rock, Rap oder Punk machen, ist es nicht mehr spannend. Deshalb haben wir angefangen zu schauen, was in diesen Ländern im «Underground» passiert… Wir haben also eigentlich nie Weltmusik behandelt, aber aktuelle Musik aus Afrika, Asien und Lateinamerika thematisiert.

Michael Spahr:

Daher kommt auch der Name Norient. Bei den Arbeiten am gemeinsamen Dokumentarfilm über Inder und Pakistani in England haben sich die britischen Inder bei uns beklagt, dass ihre Musik, sobald man sie sähe, sofort als «ein wenig orientalisch» beurteilt werde. Norient heisst so viel wie «No Orient» und steht für antikolonialistisch, modern, globalisierend. Unter anderem mit diesem Film wurden wir 2008 an ein Musikfilm Festival in Krakau eingeladen. Das Festival hat uns ausgesprochen gut gefallen, und wir haben den Leuten dort auch gefallen – wir haben den Publikumspreis gewonnen.

B: 

Wir wissen allerdings nicht, ob es nur wegen des Films war oder weil wir während einer Woche dort verlebt und gefeiert haben.

S:

Das Konzept des Musikfilm-Festivals hat uns jedenfalls sehr gefallen. Deshalb wollten wir in der Schweiz etwas Ähnliches aufziehen.

«Wir wollen zu den Filmfestivals dazugehören und sind sicher keine Festival-Revoluz- zer.»

Thomas Burkhart, Norient

Mit dem Festival können wir Musikfilmen, die ansonsten ein Nischendasein hegen und im Fernsehen höchstens zu Randzeiten ausgestrahlt werden, eine gute Präsenz geben.

B:

Und wir sind vom Erfolg selber überrascht. Da stellst du eine Handvoll Filme zusammen, die sich sonst vielleicht kaum jemand anschauen würde, stellst sie in einen Festivalkontext und die Leute strömen herbei. Das freut uns, dahingehend sind wir wie alle Festivalveranstalter. Wir wollen zu den Filmfestivals dazugehören und sind sicher keine Festivalrevoluzzer.

Eure «Aufnahmekriterien» für Filme sind aber schon ungewöhnlich. Im «Norient Style Filmmaking» steht zum Beispiel, dass teures Equipment verschmäht wird und das Schreiben von Filmfördergesuchen weniger Zeit in Anspruch nehmen sollte als das Rumhängen mit potentiellen Protagonistinnen des Films…

B:

Verschiedene Festivals haben verschiedene Kriterien. Bei uns muss etwas nicht zwingend auf dem neuesten Stand der filmtechnischen Umsetzung sein, aber es muss einem nahe gehen, eine Tiefe haben. So kann es vorkommen, dass wir auch Mal einen Film auswählen, der bei einem anderen Festival aufgrund filmischer Kriterien nicht weiterkommen würde, wenn er uns eine Geschichte erzählt, die aufwühlt und die Leute beschäftigt.

S:

Ein schönes Beispiel ist ein Film aus Brasilien, der über Baile Funk aus den Armenvierteln in Rio berichtet. Die Bilder wurden von einer Frau aus der Szene mit einer einfachen Handycam aufgenommen. Dementsprechend sind sie verwackelt und haben nicht immer die beste Tonspur. Sie gehen aber umso näher an diese Favela-Funkszene heran. So nahe würde ein europäisches Filmteam auch mit einem noch so guten und teuren Equipment und Budget niemals an die Menschen herankommen.

B:

Demgegenüber stehen unzählige oberflächlich gemachte Musikfilme, die – besonders in der Rapszene – eine stereotype Antwort auf die nächste geben … Das ist doch langweilig, selbst wenn es filmisch perfekt umgesetzt ist … Im Idealfall kommen natürlich die gute Form und die gute Geschichte zusammen. Aber es gibt auch Filme, bei deren Aufführung wir nervös werden weil die filmische Qualität dermassen abgefallen ist, die Geschichte aber trotzdem beachtenswert blieb. Bis heute hat es funktioniert.

Der geografische Fokus des diesjährigen Programms liegt auf New Orleans. Thematisch stehen Metal, Religion und Satanismus und gleichzeitig Fragen zu Geschmack, Trash und Kitsch im Zentrum. Wie kommt Ihr auf eine solche Mischung?

B:

Wir schauen uns durch den Stapel an Filmen und arbeiten massenweise Links zu Videos ab. Anhand von der Musik und den erzählten Geschichten wählen wir die Filme aus. Und erst danach sehen wir, ob sich aus der Auswahl ein Thema ergeben hat, oder ob sich mehrere Themen herauskristallisiert haben. Im diesjährigen Programm haben wir mehrere Filme aus der Metal-Szene, aber auch Geschichten aus der Popkultur, welche sich gerade noch an der Peripherie der Kultur aufhält, deshalb die Auseinandersetzung mit den Schlagworten «Kitsch, Trash und Geschmacksverstauchungen».

S:

Wer sich heuer alle Filme anschaut, fährt eine brutale Achterbahn.

«Wer sich heuer alle Filme anschaut, fährt eine brutale Achterbahn.»

Michael Spahr, Norient

Wer kommt ans Musikfilm Festival?

B:

Die Altersspanne der Besucherinnen und Besucher ist überraschend breit. Bei den vergangenen Aufführungen sassen Menschen zwischen 25 bis 65 Jahren im Saal. Viele kann ich nirgendwo richtig ansiedeln, vor allem bei den Jungen, die den Grossteil des Publikums ausmachen. Dann besuchen uns Leute aus der Kulturszene und auch ältere Menschen, die hauptsächlich durch einzelne Filme angesprochen worden sind.

S:

Je nach Thema des Films sitzen andere Zuschauerinnen und Zuschauer vor der Leinwand. Eben hat zum Beispiel die bulgarische Botschaft einen Newsletter herausgegeben und auf Facebook eingeladen, weil wir den bulgarischen Film «Little-Big» programmiert haben.

B:

Jetzt diskutieren sie auf Facebook auf Bulgarisch – ich glaube, da kommen recht viele Bulgaren. Und die bulgarische Botschafterin hat uns angefragt, ob wir ihr Tipps geben könnten, wie man bulgarische Filme in die Schweiz bringen könne.

Und wer kommt am Wochenende nicht ans Festival?

S:

Sicher Leute, die aus Prinzip nicht in die Reitschule gehen. Davon gibt es immer noch ein paar Vereinzelte in Bern. Aber es kann auch sein, dass sie sich eben gerade wegen des Musikfilm Festivals in die Reitschule verirren. Wie zum Beispiel die bulgarische Botschafterin.

B:

Je nach Thema ändert sich auch das Publikum. Vielleicht kommen diesmal viele Metalheads. Ein paar einschlägige T-Shirts in den Stuhlreihen neben der bulgarischen Botschaftsdelegation würden mich jedenfalls freuen.


Subkutan Supplement

Bericht zu den Musikfilmen über Sissi Bounce und Big Freeida aus Subkutan, der neuen Kultursendung auf RaBe (Bericht von Theresa Beyer):